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David X. Noack

Kritische Perspektiven auf Geschichte und internationale Politik

Im Schatten der Eisenbahn

Berlin verstärkt seine Bemühungen, Georgien und Armenien enger an die EU und die NATO zu binden. Georgien kooperiert verstärkt mit Russland und China; Armenien baut seine Kontakte nach Westen aus.

Deutsche Politiker aus Regierung und Opposition intensivieren ihre Bestrebungen, Georgien und Armenien stärker an die EU und die NATO zu binden. Georgien bemüht sich zunehmend um eine eigenständige Außenpolitik, weigert sich, sich an den westlichen Russland-Sanktionen zu beteiligen, und intensiviert seine Beziehungen mit China, das mittlerweile sein wichtigster Absatzmarkt ist. Dies führt zu Konflikten nicht nur mit den USA, sondern auch mit der Bundesrepublik. Kürzlich erklärte der CDU-Bundestagsabgeordnete Ralph Brinkhaus, schon aus geostrategischen Gründen müsse man stärkeren Einfluss auf Georgien anstreben: Das Land sei Teil eines Transportkorridors („Mittlerer Korridor”) zwischen Europa und Zentralasien, mit dem man Russland umgehen könne. Armeniens liberaler Premierminister wiederum sucht sich zur Zeit dem Westen anzunähern; aktuell findet in Armenien ein gemeinsames armenisch-US-amerikanisches Manöver statt. Gleichzeitig wird die mögliche Wiedereröffnung der Südkaukasischen Eisenbahn diskutiert, die den russischen Einfluss in Armenien und Georgien erheblich steigern würde – auf Kosten von NATO und EU und damit auch Deutschlands.

Abwendung von EU und NATO?
Der Streit zwischen den westlichen Staaten und Georgien um die außenpolitische Orientierung des Landes nimmt zu. Als NATO-Beitrittskandidat ist Georgien eigentlich verpflichtet, die Infrastruktur für eine eventuelle Verlegung von NATO-Truppen bereitzuhalten – in diesem Fall auf dem Luftweg. Im Juni kündigte die georgische Regierung nun an, bei Tiflis einen zweiten zivilen Flughafen zu bauen. Dazu will sie das zuletzt ausschließlich für NATO-Manöver genutzte Flugfeld Waziana umfunktionieren – ein deutliches Zeichen gegen das westliche Militärbündnis.[1] Aufforderungen aus EU- und NATO-Staaten, wonach Georgien sich den westlichen Russland-Sanktionen anschließen solle, entgegnete Premierminister Irakli Gharibaschwili im Mai, ein solches Vorgehen würde „die georgische Wirtschaft zerstören”.[2] Im April verhängte die US-Regierung ihrerseits Sanktionen gegen einzelne georgische Richter.[3] Ende des Jahres wird in Brüssel entschieden, ob Georgien der Status eines EU-Beitrittskandidaten zugestanden wird.[4] Angesichts der jüngsten Entwicklungen gilt dies als eher unrealistisch.

Deutsche Einflussbemühungen
Aufgrund der immer eigenständigeren georgischen Außenpolitik forcieren deutsche Politiker aus Regierung und Opposition ihre Bemühungen, das Land auf einen westlichen Kurs zu trimmen. Im Mai erklärte der CDU-Bundestagsabgeordnete Ralph Brinkhaus bei einer Veranstaltung der überwiegend von regierungsfinanzierten neokonservativen Denkfabrik „Zentrum Liberale Moderne” in Tiflis, Georgien habe „eine zentrale Stellung im Mittleren Korridor” inne, der eine „Alternative zum Transit über Russland” nach Zentralasien sei; ein EU-Beitritt Georgiens habe deshalb einen „Mehrwert”.[5] Einen Monat später reiste Robin Wagener, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen und Koordinator der Bundesregierung für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit dem Südlichen Kaukasus, nach Tiflis, um „deutlich zu machen, dass Deutschland zur europäischen Perspektive Georgiens” stehe.[6] Eine georgische Spitzenpolitikerin, die sich entschieden für Georgiens Integration in die EU einsetzt, ist die seit 2018 amtierende parteilose Staatspräsidentin Salome Surabischwili. Um den Westkurs ihres Landes zu zementieren, traf sie sich Ende August mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, ohne dies vorher mit der Regierung ihres Landes abgesprochen zu haben, wie es Georgiens Verfassung bei außenpolitischen Aktivitäten eigentlich vorsieht. Abgeordnete der georgischen Regierungskoalition sehen darin einen Verfassungsbruch und kündigten an, Surabischwili müsse nun mit einem Amtsenthebungsverfahren rechnen.[7]

Entspannung mit Russland
Während Georgiens Beziehungen zu EU und NATO abkühlen, verbessern sich parallel die georgisch-russischen Beziehungen. Seit dem Amtsantritt der Regierungskoalition „Georgischer Traum” im Jahr 2012 hat sich der jährliche Umfang der georgischen Exporte nach Russland verzehnfacht; die Einfuhren aus dem nördlichen Nachbarland verdoppelten sich fast. Mittlerweile kommen 92 Prozent der georgischen Weizenimporte und 97 Prozent der Mehlimporte aus Russland.[8] Nicht nur wirtschaftlich, auch politisch nimmt Moskau zunehmend Einfluss. Im Januar schlug der russische Außenminister Sergej Lawrow vor, Georgiens Regierung und die beiden von Georgien abgespaltenen De-facto-Republiken Abchasien und Südossetien sollten informelle Beziehungen in einem Format aufnehmen, das Russland einschließt; dies würde den Einfluss der EU- und NATO-Staaten auf eine mögliche Konfliktlösung in beiden Gebieten minimieren.[9] Im Mai plädierte schließlich ein oppositioneller Abgeordneter in der russischen Duma dafür, Georgien und Russland könnten nach 15 Jahren diplomatischer Eiszeit ihre bilateralen Beziehungen wieder offiziell aufnehmen.[10]

Mehr Austausch in der Region
Auch der georgisch-russische Verkehr wird systematisch ausgebaut. Bereits im August 2022 kündigte das armenische Wirtschaftsministerium an, Armenien werde eine Fährverbindung zwischen dem georgischen Schwarzmeerhafen Poti und dem russischen Hafen Port Kawkas einrichten. Über die Seeverbindung würden Güter umgeleitet, die schnell zwischen Armenien und Russland transportiert werden müssten und deshalb die oft verstopfte Route über die Georgische Heerstraße – den einzigen georgisch-russischen Grenzübergang, der nicht von Separatisten kontrolliert wird – nicht nehmen sollten.[11] Im Mai dieses Jahres hob der russische Präsident Wladimir Putin dann ein Dekret auf, das den Flugverkehr zwischen Russland und Georgien untersagte. Außerdem führte Putin die visafreie Einreise für Georgier nach Russland wieder ein; gestoppt worden war sie vor zwei Jahrzehnten.[12] Die Normalisierung der georgisch-russischen Beziehungen schreitet damit immer weiter voran.

Bessere Beziehungen mit China
Nicht nur mit Russland, auch mit China verbessert die georgische Regierung seit einigen Jahren die bilateralen Beziehungen. 2018 trat das chinesisch-georgische Freihandelsabkommen in Kraft – Chinas erstes Abkommen dieser Art mit einem europäischen Land. Seit dem Jahr 2020 ist die Volksrepublik der größte Exportmarkt für Georgien und eines seiner drei wichtigsten Importländer.[13] Ende Juli besuchte eine georgische Delegation unter Leitung von Premierminister Gharibaschwili China. Bei einem Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping gaben beide die Aufwertung der bilateralen Beziehungen zu einer „strategischen Partnerschaft” bekannt; das kam selbst für Kenner der georgisch-chinesischen Beziehungen überraschend.[14] Mit dem steigenden Einfluss Russlands und Chinas geht die bisherige Dominanz der EU- und NATO-Staaten in dem Kaukasusland zurück.

Die Südkaukasische Eisenbahn
Als ein Mittel, um eine verstärkte regionale Integration zu erreichen und Georgien und Armenien vom Westen abzuschirmen, gilt die Anfang der 1990er Jahre unterbrochene Südkaukasische Eisenbahn. Deren Schienen führen von Sotschi in Russland quer durch die De-facto-Republik Abchasien und das georgische Kernland bis nach Armenien. Bereits vor 20 Jahren einigten sich die georgische und die russische Regierung auf die Wiedereröffnung der Bahnverbindung. Der Eisenbahnverkehr sollte die abtrünnige Republik Abchasien ökonomisch verstärkt mit Georgien und Russland verschränken und dazu beitragen, Spannungen abzubauen.[15] Dann brachte allerdings Ende 2003 ein auch von Deutschland unterstützter Umsturz („Rosenrevolution”) den Nationalisten Micheil Saakaschwili in Tiflis an die Regierung und beendete sämtliche Entspannungsbemühungen.[16] Nach der Wiederaufnahme der Flugverbindung zwischen Georgien und Russland im Mai dieses Jahres begannen Regierungsvertreter in Tiflis und in Moskau, erneut auch die Wiedereröffnung der Südkaukasischen Eisenbahn zu diskutieren.[17]

Abwendung von Russland?
Während die Beziehungen der EU- und NATO-Staaten zu Georgien sich zuletzt verschlechtert haben, deutet sich in Georgiens Nachbarland Armenien eine Neuorientierung weg von Russland und hin zum Westen an. Unter dem seit 2018 amtierenden liberalen Premierminister Nikol Paschinjan distanziert sich Armenien zunehmend von Russland, mit dem es im Militärbündnis OVKS und in der Wirtschaftsvereinigung EAWU zusammengeschlossen ist. Vergangene Woche erklärte Paschinjan in einem Interview mit dem Springer-Onlineportal Politico, sein Land könne sich nicht mehr „auf Russland verlassen”.[18] Kurz zuvor waren US-amerikanische Soldaten für ein gemeinsames Manöver mit armenischen Truppen in dem Kaukasusland gelandet.[19] Armenien scheint sich demonstrativ der EU und der NATO zuzuwenden.

Verstärkte deutsche Kontakte
Entsprechend zeigt auch die Bundesrepublik verstärkt Präsenz. Am 9. September telefonierte Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem armenischen Premierminister.[20] Michael Roth (SPD), vormaliger Staatsminister für Europa beim Bundesminister des Auswärtigen und derzeit Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, plädierte außerdem jüngst dafür, die EU solle eine Visaliberalisierung für Bürger der Republik Armenien in die Wege leiten. In deutschen Medien werden die jüngsten Offerten der Regierung in Jerewan bejubelt – die armenische Außenpolitik wirke, heißt es, wie „von russischen Restriktionen befreit”.[21]

[1] Beka Chedia: A New ‘Georgian Dream?’: Tbilisi Moves for Economic Gains Over Security Guarantees. jamestown.org 13.06.2023.

[2] PM Garibashvili: we would destroy Georgia’s economy if we imposed economic sanctions on Russia. civil.ge 24.05.2023.

[3] Daniel Boffey: US puts sanctions on four Georgian judges over ‘significant corruption’. theguardian.com 12.04.2023.

[4] Thomas de Waal: The Orbanizing of Georgia. carnegieeurope.eu 31.08.2023.

[5] Khatia Kikalishvili: Georgien: Nächste Schritte auf dem Weg in die Europäische Union. libmod.de 23.05.2023.

[6] Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit dem Südlichen Kaukasus, der Republik Moldau und Zentralasien Robin Wagener vor seiner Abreise nach Georgien. auswaertiges-amt.de 05.06.2023.

[7] ‘President violating constitution’ – Zurabishvili faces impeachment over her visits to Europe. jam-news.net 01.09.2023.

[8] Michaël Tanchum: Georgia Can End Russia’s Stranglehold Over its Wheat Supply with NATO Assistance. cacianalyst.org 08.09.2023.

[9] Moscow: We are for Abkhazia and South Ossetia building relations with Georgia. jam-news.net 18.01.2023.

[10] ??????? ?? ????????: ????????? ????? ????? ????????????? ??????? ????? ????? ?????????????? ???????????? ????? ??????? ? ???????. rg.ru 18.05.2023.

[11] Nini Gabritchidze/Ani Mejlumyan: Armenia to set up ferry between Georgia and Russia. eurasianet.org 16.08.2022.

[12] Nini Gabritchidze: Russia’s transport ambitions create new headaches in Georgia. eurasianet.org 25.05.2023.

[13] Key Indicators for Asia and the Pacific 2021: Georgia. adb.org (ohne Datum).

[14] Revaz Topuria: Building Bridges or Shifting Course? Assessing the China-Georgia Strategic Partnership. thediplomat.com 04.08.2023.

[15] David X. Noack: Russische Einflussgewinne im Kaukasus und die Geopolitik der Südkaukasischen Eisenbahn, IMI-Studie Nr. 08/2015, 06.10.2015, S. 8.

[16] S. dazu Keine Großmachtspiele!

[17] Beka Chedia: Georgia Rapidly Cozying Up to Russia and Moving Away From the West. jamestown.org 25.05.2023.

[18] Gabriel Gavin: We can’t rely on Russia to protect us anymore, Armenian PM says. politico.eu 13.09.2023.

[19] Rob Garver: US Troops’ Arrival in Armenia for Training Riles Russia. voanews.com 11.09.2023.

[20] Bundeskanzler Scholz telefoniert mit dem Premierminister von Armenien, Paschinjan. bundesregierung.de 09.09.2023.

[21] Silvia Stöber: “Wir trauen ihnen nicht, sie respektieren uns nicht”. tagesschau.de 16.09.2023.

Erschienen auf german-foreign-policy.com, 19.09.2023.
Artikel bei GFP erscheinen im Rahmen einer Redaktionsarbeit und sind nicht als Autorenartikel zu sehen.

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