Polnische Kolonialambitionen in Brasilien und Peru in den 1920er und 1930er Jahren
In der Zweiten Polnischen Republik strebte eine starke Bewegung den Erwerb von eigenen Kolonien an
Nach Jahrzehnten der Spaltung zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland gründeten polnische Politiker am 11. November 1918 – unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – Polen wieder. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs knapp 21 Jahre später existierte Polen wieder als flächenmäßig großer Staat und wichtiger politischer Akteur in Osteuropa. Durch verschiedene Allianzen verbunden stand das Land eng an der Seite Frankreichs und Großbritanniens – den Trägern der Versailler Friedensordnung nach 1918 und den beiden damals größten Kolonialmächten überhaupt. Im Lauf der etwas mehr als zwei Jahrzehnte die Zweiten Polnischen Republik wuchs eine starke innenpolitische Bewegung an, welche Kolonien für Polen forderte. Konkrete Kolonialprojekte verfolgten Kolonialgesellschaften in verschiedenen Ländern Afrikas und Lateinamerikas, unter anderem in Brasilien und Peru.
Bereits einen Monat vor der Republikgründung etablierten 25 Männer die Organisation Polnische Flagge (Polska Bandera), um die Bedeutsamkeit der Meere sowie der maritimen Navigation auf Binnengewässern und auf der offenen See in Polen populär zu machen und als allgemein anerkanntes „polnisches nationales Interesse“ zu etablieren.1 Die Organisation wechselte mehrmals den Namen2 und 1924 entstand daraus die See- und Flussliga. Bei ihrem ersten Kongress im südpolnischen Katowice im Oktober 1928 einigten sich die angereisten Vertreter darauf, öffentlich den Erwerb von Kolonien für Polen zu fordern.3 Das war nicht unüblich – bereits im ersten Jahr der Republikgründung hatte ein Abgeordneter der Bauernpartei PSL gefordert, dass Polen Kolonien erhalten solle.4 Doch bis Mitte der 1920er Jahre blieb die Kolonialbewegung noch schwach.
Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits mehrere Kolonialgesellschaften gegründet, wie das 1924 durch Ökonomen und Adlige gegründete Polnisch-Amerikanische Kolonisationssyndikat.5 Hinzu kam die Union der kolonialen Pioniere, die ebenfalls den Erwerb von Überseegebieten forderte.6 Im Umfeld ersterer dieser beider Organisationen entstand die Idee für eine Kolonie in Südamerika.
Im Mai 1927 genehmigte die peruanische Regierung dem Polnisch-Amerikanischen Kolonisationssyndikat die Besiedlung von Gebieten in den Flussbecken der Amazonasströme Ucayali, Tambo und Uramba. Sie überließ den Siedlern ein Gebiet von circa einer halben Million Hektar.7 Ein Jahr darauf reisten zwei polnische Experten in das Gebiet und kehrten mit der Auffassung zurück, dass es nicht für eine Kolonie geeignet sei. Trotz alledem machten sich 200 Polen auf, um eine Siedlung in dem Gebiet zu etablieren. Viele starben an Krankheiten und anderen Umständen, auf die sie nicht vorbereitet waren.8 Bereits 1930 zeichnete sich ab, dass der Versuch gescheitert war. Das Kolonisationssyndikat stieg aus, doch der lokale Anführer der polnischen Kolonialisten führte das Projekt in Privatverantwortung weiter.9 Im Jahr 1933 lief die Konzession aus. Die polnische Regierung fürchtete einen internationalen Skandal bei Verbleib der Siedler und evakuierte die Kolonisten aus Peru.10 Viele siedelten in andere Länder Lateinamerikas um.11 Das peruanische Projekt endete als Desaster.
Dennoch gewann die koloniale Bewegung in Polen selbst sowie in der weltweit verstreuten polnischen Diaspora weiter Zuwachs. Im Oktober 1930 nannte sich die See- und Flussliga in See- und Kolonialliga (Liga Morska i Kolonialna, LMK) um. Bereits ein Jahr später hatte eben jene Liga Lokalgruppen in Nord- und Südamerika, Europa und Asien mit dem Namen Freunde der See gegründet.12 Einen offiziösen Charakter erhielt die LMK mit der Wahl eines Generals zum Vorsitzenden: Der deutschstämmige General Gustaw Orlicz-Dreszer (1889–1936), der als die rechte Hand des polnischen Diktators Józef Pilsudski galt13, arbeitete dienstlich als Inspekteur der Armee und hegte privat seine Kolonialträume. Darüber hinaus erhielt die See- und Kolonialliga 1932 den offiziellen Auftrag, Gelder für die Marine zu organisieren. Die Liga wurde damit offiziellerseits aufgewertet. Die LMK blieb bei ihrem eigentlichen Ziel und organisierte eine Kampagne, um im Land die Idee von Kolonien populär zu machen.14 Im Schatten der Weltwirtschaftskrise wuchs die Bewegung immer weiter an.
Während in Polen selbst die Kolonialbewegung an Stärke gewann, begannen bereits die Vorbereitungen für einen zweiten Anlauf für eine polnische Kolonie in Südamerika. In diesem Fall setzten die führenden Köpfe der See- und Kolonialliga auf die polnische Diaspora in Brasilien. Zwischen 1869 und 1920 waren ungefähr 60.000 Polen aus dem russisch-kontrollierten Kongresspolen in das ebenso katholische Brasilien ausgewandert. Nahezu alle siedelten sich im südbrasilianischen Paraná an. Dessen Hauptstadt hat als einziger Ort Lateinamerikas auch einen polonisierten Namen: Aus Curitiba wurde in der ostslawischen Sprache Kurytyba.15 Auch nach der Gründung eines unabhängigen Staates wanderten weiterhin tausende Polen nach Lateinamerika aus.16 Wie viele, ist nicht genau geklärt.
1930 siedelten dann organisiert 135 polnische Familien nach Paraná über. Die See- und Kolonialliga sandte vier Jahre später den in Rente gegangenen General Stefan Strzemienski aus, damit er zwei Millionen Hektar Land kaufen solle, um eine Kolonie zu gründen. Im Jahr 1934 gründete der frühere Offizier offiziell dann auch gleich die Kolonie „Seewille“ (Polnisch: Morska Wola, Portugiesisch: Colônia Morska Wola). Diese sollte angeblich dazu dienen, der polnischen Diaspora in dem Küstengebiet in den Bereichen Landwirtschaft und Berufsausbildung zu helfen.17 Die Kolonialliga verpflichtete sich als Gegenleistung für die Errichtung der Kolonie gegenüber der Regionalregierung von Paraná dazu, eine Eisenbahnlinie über eine Strecke von circa 140 Kilometern von Riozinho nach Guarapuava zu bauen. Dazu kam es nicht und die brasilianische Zentralregierung unter Getúlio Vargas18 führte Gesetze ein, welche die Einwanderung von Polen begrenzen sollte. Das Seewille-Projekt endete im Jahr 1938.19
Obwohl auch dieses Unterfangen scheiterte, setzte die polnische Regierung in den folgenden Jahren auch selbst offiziell auf den Erwerb von Kolonien. Im Jahr 1936 forderte der polnische Außenminister Józef Beck im Völkerbund die Erhöhung der Zahl der Mandatsgebiete dieser weltumspannenden Organisation, die als Vorläufer der Vereinten Nationen gilt.20 Die einst deutschen und nach dem Ersten Weltkrieg von den Entente-Mächten übernommenen Kolonien hießen damals offiziell „Mandatsgebiete“. Noch bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs in Europa stieg die Zahl der Mitglieder der See- und Kolonialliga immer weiter an. Versuche für Siedlungskolonien unternahmen Ende der 1930er Jahre polnische Diplomaten und Kolonialenthusiasten unter anderem in Bolivien, Ecuador und Nicaragua.21 Alle Projekte scheiterten.
Die polnische Kolonialbewegung fand im Jahre ihres Höhepunktes – 1939 – ihr Ende als das faschistische Deutschland, der deutsche Marionettenstaat der Slowakei sowie die Sowjetunion Polen unter sich aufteilten. Die Wehrmacht marschierte im September 1939 ein und damit begann der Zweite Weltkrieg in Europa. In Frankreich bildete sich eine polnische Exilregierung. Auch wenn polnische Diplomaten in Übersee zunächst darauf setzten, dass Polen seine Ansprüche aufrecht erhalten solle, hatte die Exilregierung, die mit dem deutschen Überfall auf Frankreich nach London übersiedelte, andere Prioritäten und ließ die Ansprüche fallen.
Außerhalb Polens ist die Geschichte der Kolonialbewegung kaum bekannt und wenig erforscht. Besonders die Ursachen können noch besser erforscht werden. Eine Erklärung lieferten die US-Diplomaten im Land. Die Gründe für die starke Kolonialbewegung sahen sie in der prekären Lage der Bauern im Land. Drexel Biddle Jr., der 1937 zum US-Botschafter ernannt wurde, schrieb an seine Vorgesetzten, dass die radikalisierte Bauernschaft – sollte sie organisiert sein – eine wirkliche Landreform erzwingen könnte und damit die herrschende Klasse in Polen wirtschaftlich entmachten könnte. Um das zu verhindern, inspiriere die Regierung die Kolonialpropaganda. Vor allem die Adligen hätten deswegen ein Interesse an der Kolonialfrage. Ihnen ginge es darum, die unbeliebte jüdische Minderheit sowie die ländliche Bevölkerung loszuwerden.22
1. Bereits im Verlauf des Ersten Weltkriegs hatte Deutschland einen polnischen Vasallenstaat (Regentschaftskönigreich Polen) etabliert. Dieser hatte jedoch keinen Zugang zum Meer.
2. Beate Herrmann: Doppelt sensibel – Die Ethnographische Sammlung Lodz als Zeugnis polnischer und deutscher Zeitgeschichte, in: Anna-Maria Brandstetter/Vera Hierholzer (Hgg.): Nicht nur Raubkunst! – Sensible Dinge in Museen und universitären Sammlungen, Göttingen 2017, S. 93–106 (hier: S. 97Fn14).
3. Ebenda.
4. Piotr Puchalski: The Polish Mission to Liberia, 1934–1938: Constructing Poland’s Colonial Identity, in: The Historical Journal, Jg. 60 (2017), Nr. 4, S. 1071–1096 (hier: 1075).
5. Maria Lukowska/Justyna Stepien: Postcolonialism and the Polish Colonial Dream, in: Krystyna Kujawinska Courtney/Izabella Penier/Sumit Chakrabarti (Hgg.): The Post-Marked World – Theory and Practice in the 21st Century, Newcastle upon Tyne 2013, S. 153–172 (hier: S. 168).
6. Hunczak: Polish Colonial Ambitions in the Inter-War Period, S. 648.
7. Michal Wasilewski: The growing Wave: Polish archaeological Contributions in the New World, in: Contributions in New World Archaeology, Jg. 6 (2014), S. 167–198 (hier: S. 168).
8. Lukowska/Stepien: Postcolonialism and the Polish Colonial Dream, S. 168.
9. Wasilewski: The growing Wave: Polish archaeological Contributions in the New World, S. 168.
10. Jerzy Mazurek: Kraj a emigracja: Ruch ludowy wobec wychodzstwa chlopskiego do krajów Ameryki Lacinskiej (do 1939 roku), Warschau 2006, S. 152.
11. Lukowska/Stepien: Postcolonialism and the Polish Colonial Dream, S. 168.
12. Hunczak: Polish Colonial Ambitions in the Inter-War Period, S. 650.
13. Puchalski: The Polish Mission to Liberia, 1934–1938: Constructing Poland’s Colonial Identity, S. 1075.
14. Hunczak: Polish Colonial Ambitions in the Inter-War Period, S. 649.
15. Polish Brazilians remember their culture, economist.com 26.11.2016. Hier abrufbar.
16. Lukowska/Stepien: Postcolonialism and the Polish Colonial Dream, S. 168.
17. Puchalski: The Polish Mission to Liberia, 1934–1938: Constructing Poland’s Colonial Identity, S. 1075.
18. Unabhängig von all diesen Ereignissen führte der brasilianische Präsident Getúlio Vargas im Jahr 1937 einen „Autogolpe“ durch und erklärte die Schaffung eines „Neuen Staates“ (Estado Novo) in Anlehnung an das faschistische System in Portugal. Vargas ließ eine neue Verfassung modellieren, die den Spitznamen „Polaca“ (Die Polnische) erhielt, da sie der autoritären Verfassung Polens aus dem Jahr 1935 nachempfunden war. Siehe: Keith S. Rosen: Conflict Resolution and Constitutionalism – The Making of the Brazilian Constitution of 1988, in: Laurel E. Miller/Louis Aucoin: Framing the State in Times of Transition – Case Studies in Constitution Making, Washington, D.C. 2010, S. 435–466 (hier: S. 437).
19. Lukowska/Stepien: Postcolonialism and the Polish Colonial Dream, S. 168.
20. Hunczak: Polish Colonial Ambitions in the Inter-War Period, S. 651.
21. Michal Jarnecki: Fantastyka polityczna czy koniecznoscz? Portugalska Afryka, Nikaragua, Boliwia i Ekwador w polskich planach kolonialnych, in: Sprawy Narodowosciowe, Jg. 36 (2010), S. 93–105.
22. Hunczak: Polish Colonial Ambitions in the Inter-War Period, S. 656.
Erschienen auf: amerika21.de, 07.06.2018.