Einflusskampf in Zentralasien
Bei den Parlamentswahlen in Kirgisistan haben Deutschland und der Westen am Wochenende einen erneuten Einflussverlust gegenüber Russland hinnehmen müssen. Aus den Wahlen sind Parteien als Sieger hervorgegangen, die die enge Zusammenarbeit des Landes mit Moskau fortsetzen wollen. Damit stehen langjährige Bemühungen Berlins und Washingtons, den westlichen Einfluss in dem strategisch wichtigen zentralasiatischen Land zu stärken, vor dem Scheitern. Die Bundesrepublik hatte sich seit den 1990er Jahren um die Anbindung Kirgisistans an die EU bemüht; Washington hatte dort zeitweise sogar eine Militärbasis unterhalten, bis Bischkek im Rahmen seiner Annäherung an Russland ihre Schließung durchsetzte. Vor den Wahlen am Wochenende hatten sich hartnäckig Spekulationen gehalten, die USA könnten die Spannungen im Land zur Förderung einer neuen „Farbrevolution“ nach georgisch-ukrainischem Vorbild nutzen. Einen derartigen Umsturz im Jahr 2005 hatte auch Berlin begrüßt. Beim Bemühen um Einfluss in Zentralasien knüpft die deutsche Politik an Muster an, die bis in die Zeit nach der Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 zurückreichen.
Wirtschaftsliberales Experiment
Die ehemalige Sowjetrepublik Kirgisistan geriet nach ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991 ökonomisch schon recht bald ins Fahrwasser des Westens. Bereits der erste Präsident des Landes, Askar Akajew, forcierte die Liberalisierung der Wirtschaft. Das Bankengesetz des Jahres 1992 wurde in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) erstellt. Im folgenden Jahr führte Kirgisistan als erstes Land der GUS eine eigene Währung ein und begann mit Privatisierungen. Im agroindustriellen Sektor wollte Akajew so die historisch gewachsene ungleiche Verteilung von Agrarland zwischen russischsprachigen und kirgisischsprachigen Bürgern neu ordnen. Doch auch in industriellen Belangen hielt sich Akajew in den 1990er Jahren an die Vorgaben des IWF. 1998 wurde das Land das erste zentralasiatische Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO); dies brachte einen weiteren Liberalisierungsschub mit sich. Die wirtschaftsliberale Politik führte auch zur ökonomischen Anbindung an den Wirtschaftskreislauf der NATO-Staaten. Im Jahr 1997 nahm die Kumtor-Goldmine im Osten des Landes die Produktion auf. Sie steht seit dieser Zeit unter der Kontrolle der kanadischen Centerra Gold Inc. und erwirtschaftete im Jahr 2011 ungefähr ein Achtel des kirgisischen Bruttoinlandsproduktes. Zu den Folgen der wirtschaftsliberalen Politik gehört, dass Kirgisistan nach 15 Jahren Unabhängigkeit die höchste Pro-Kopf-Verschuldung aller zentralasiatischen Staaten aufwies.
„Teil Europas“
Westliche Medien hatten Kirgisistan in dieser Zeit immer wieder als eine „Oase der Demokratie in Zentralasien“ bezeichnet.[1] Deutsche Zeitungen betonten gerne, Staatspräsident Akajew sei „ein Verehrer von Goethe und Schiller sowie der deutschen Musiktradition“.[2] Das von ihm regierte Land galt sogar als „Schweiz Zentralasiens“.[3] Akajew habe Kirgisistan „zu einer Art Musterstaat unter den Reformländern Mittelasiens gemacht“, schrieb die einflussreiche Frankfurter Allgemeine Zeitung im Jahr 1997.[4] Kirgisistans angebliche Vorbildfunktion wurde zu einer Zeit proklamiert, zu der deutsche Stellen sich um Einfluss in der Region bemühten. Deutsche Wirtschaftsvertreter forderten 1997, dass Kirgisistan Teil einer zentralasiatischen Wirtschaftsunion werden solle. Eine solche Union hätte dann – an Russland vorbei – an die EU angebunden werden können. Auf einer Konferenz der Herbert-Quandt-Stiftung der BMW AG im Berliner Hotel Adlon im Jahr 1999 sagte der damals amtierende kirgisische Premierminister Amangeldi Muralijew: „Wir träumen davon, Teil Europas zu sein“.[5] Eine Ausdehnung des deutschen Einflussbereichs bis an die Grenzen Chinas schien zum ersten Mal möglich.
Deutscher Einfluss
Tatsächlich motivierten die strategisch wichtige Lage und die wirtschaftlichen Voraussetzungen deutsche Stellen zu zunehmenden Einflussaktivitäten. So beriet der ehemalige CDU-Ministerpräsident Niedersachsens Ernst Albrecht – der Vater der derzeitigen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen – im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit von 1995 bis 2003 die kirgisische Regierung.[6] Dasselbe tat der ehemalige VW-Vorstandsvorsitzende Carl Hahn. Als erster westlicher Staatschef überhaupt reiste 1998 der damalige Bundespräsident Roman Herzog (CDU) in das Land. Dort besuchte er eine Siedlung der deutschsprachigen Minderheit und forderte die deutschsprachigen Kirgisen auf, im Land zu bleiben, um als „Bindeglied“ zwischen Kirgisistan und Deutschland zu dienen.[7] Im Jahr 1998 rückte die Bundesrepublik außerdem in die Gruppe der wichtigsten Investitionsländer Kirgisistans auf, als der deutsche Tabakkonzern Reemtsma die größte kirgisische Zigarettenfabrik aufkaufte.[8]
Außenpolitisch unzuverlässig
Nach dem Jahrtausendwechsel begannen jedoch nichtwestliche Mächte ihren Einfluss in Kirgisistan auszudehnen. Im Jahr 2002 sicherte die chinesische Regierung anlässlich der Unterzeichnung eines „Vertrages über strategische Zusammenarbeit“ Kirgisistan Wirtschaftshilfen zu. 2003 stimmte der kirgisische Präsident einem Militärabkommen mit Russland zu, das, wie Experten urteilen, zur „bedeutendsten Stationierung russischen Militärs seit dem Ende der Sowjetunion“ führte.[9] Nach den Anschlägen am 11. September 2001 hatte zunächst das US-Militär eine Basis im nordkirgisischen Manas eingerichtet. Die russische Basis in Kant war nun die erste neue Basis der russischen Streitkräfte in Kirgisistan nach dem Ende der Sowjetunion. Die Stimmung in den deutschen Medien kippte. Von „einem demokratischen Staat mit regionalem Vorbildcharakter“ sei das Land „noch weit entfernt“, hieß es beispielsweise in der Frankfurter Rundschau.[10]
Tulpenrevolution und Wirtschaftskrise
Unter dem Beifall nicht zuletzt parteinaher deutscher Stiftungen kam es – ähnlich wie zwei Jahre zuvor in Georgien – 2005 auch in Kirgisistan zu einem Umsturz („Tulpenrevolution“), der Kurmanbek Bakijew ins Amt des Staatspräsidenten brachte. Den folgenden Politikschwenk begleiteten deutsche Organisationen mit Genugtuung.[11] In internen Depeschen erklärten Mitarbeiter der US-Botschaft in Bischkek, die von Bakijew skizzierte Außenpolitik mit größerer Distanz zu Russland liege in „Kirgisistans bestem Interesse“.[12] Doch auch dieser Schwenk sollte nicht von Dauer sein. Die Auswirkungen der internationalen Wirtschaftskrise setzten der kirgisischen Wirtschaft besonders zu. Verzweifelt wandte sich die Regierung unter Präsident Bakijew an Moskau und erhielt im Frühjahr 2009 finanzielle Zusagen von über zwei Milliarden US-Dollar und einen partiellen Schuldenschnitt.
Der nächste Umsturz
Den erneut steigenden russischen Einfluss markierten neue Unruhen im Jahr 2010, die dieses Mal Bakijew ins Exil trieben. Eine Übergangsregierung, die zuerst von Russland anerkannt wurde, übernahm die Amtsgeschäfte. Die US-Regierung wiederum beharrte darauf, Bakijew weiterhin als legitimes Staatsoberhaupt anzusehen. Experten vermuteten schon bald eine Beteiligung des russischen Auslandsnachrichtendienstes SWR sowie des Militärnachrichtendienstes GRU an den Unruhen, die zu Bakijews Sturz führten. Die nach den vorgezogenen Parlamentswahlen gebildete Koalitionsregierung verfolgte – unter wechselnden Premierministern – einen innen- und außenpolitischen Kurs, der sich von den NATO- und den EU-Staaten absetzte. So versucht Bischkek seit 2012, die staatliche Minderheitenbeteiligung von 32,7% an der Kumtor-Mine in ein gleichberechtigtes 50-50-Joint-Venture umzuwandeln. Der damalige Premierminister Djoomart Otorbajew trat im April dieses Jahres zurück, weil er darüber keine Einigung mit Centerra erreichen konnte. Doch nicht nur wirtschaftlich setzt sich Kirgisistan wieder vom Westen ab. Die kirgisische Regierung erkannte als eine von wenigen überhaupt das Referendum über den Beitritt der Krim zu Russland an. Die US-Militärbasis Manas musste schließen. Im August dieses Jahres konnte Kirgisistan seinen Beitritt zur von Moskau geführten Eurasischen Wirtschaftsunion (Eurasian Economic Union, EEU) abschließen. Begleitet wird die russisch-kirgisische Annäherung von einem Schuldenerlass für Kirgisistan in Höhe von einer halben Milliarde US-Dollar. Außerdem erhält das Land finanzielle Hilfen im selben Umfang durch die Russische Föderation. Hinzu kommt noch Militärunterstützung im Wert von 1,1 Milliarden US-Dollar für die kirgisischen Streitkräfte.
Keine zweite „Tulpenrevolution“
Mittlerweile ist der Schwenk in der kirgisischen Außenpolitik vollständig abgeschlossen. Im Juli dieses Jahres verkündete Premierminister Temir Sarijew, Kirgisistan kündige ein 1993 mit den USA geschlossenes Abkommen, das den diplomatischen Schutz von militärischem und zivilen Ausbildungspersonal regelte, einseitig. Zuvor hatte Washington im Frühjahr den eigentlich pensionierten US-Diplomaten Richard Miles zum Geschäftsträger der US-Botschaft in Bischkek ernannt. Miles gilt als „Spezialist für Farbenrevolutionen“ [13]: Er hatte im Jahr 2000 die serbische „Bulldozer-Revolution“ gegen Slobodan Miloševi? als US-Botschafter in Belgrad und 2003 die „Rosenrevolution“ in Georgien als ebenfalls höchster US-Diplomat im Land begleitet. Die Bundesregierung hat eine Stellungnahme zu möglichen Destabilisierungsversuchen in Kirgisistan verweigert: Sie erklärte, bei Miles‘ Ernennung zum US-Botschafter habe es sich „um eine souveräne Entscheidung der Vereinigten Staaten von Amerika“ gehandelt, zu der sie sich „nicht äußer[e]“.[14] Bislang bleibt die Lage in Kirgisistan nach den Parlamentswahlen, die von an Russland orientierten Parteien gewonnen wurden, allerdings ruhig.
Alte Traditionen
Die deutsche Kirgisistan-Politik fügt sich in eine Tradition von fast 150 Jahren deutscher Zentralasienpolitik ein. Bereits Reichskanzler Otto von Bismarck beschäftigte sich intensiv mit den Ereignissen in Zentralasien. Im Zuge der Panjdeh-Krise im Jahr 1885 versuchte er, einen russisch-britischen Krieg um Afghanistan zu provozieren.[15] Im Ersten Weltkrieg wiederum zogen deutsche Politiker und Militärs es in Betracht, Zentralasien als Aufmarschgebiet gegen Britisch-Indien zu nutzen.[16] Selbst in der Weimarer Republik betätigte sich die deutsche Außenpolitik in der Region. Sie zielte bereits damals darauf ab, konkurrierende Großmächte zu schwächen – im Westen wie im Osten.
[1] Pepe Escobar: The Tulip Revolution takes root. atimes.com 26.03.2005.
[2] Wolfgang Günter Lerch: Der kirgisische Siegfried hält die Nation zusammen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.06.1997.
[3] Birgit Brauer: Musterknabe der Reformen mit Defizit bei Demokratie. Handelsblatt 30.01.1998.
[4] Wolfgang Günter Lerch: Der kirgisische Siegfried hält die Nation zusammen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.06.1997.
[5] Ingrid Scheithauer: Sie träumen davon, Teil Europas zu sein. Frankfurter Rundschau 26.11.1999.
[6] Hürdenlauf für deutsche Firmen. Handelsblatt 29.08.1997.
[7] Herzog fordert Deutsche zum Bleiben auf – Erster Staatsbesuch im zentralasiatischen Kirgisien. Berliner Zeitung 02.02.1998.
[8] S. dazu Kirgisistan: „Traditionell starke“ deutsche Sprache fördern. Allerdings kündigte der Mutterkonzern Imperial im Jahr 2014 an, die Fabrik in Kirgisistan zu schließen.
[9] Sergei Blagov: Moscow marches into Kyrgyzstan. atimes.com 24.09.2003.
[10] Jörn Klare: Am Rande der Demokratie, Frankfurter Rundschau 10.11.2004.
[11] S. dazu Die neue Seidenstraße, Transportkorridor und Unsicherer Kandidat.
[12] Wikileaks-Depesche 10BISHKEK37 vom 12.01.2010.
[13] Reinhard Lauterbach: Als nächstes Kirgistan? junge Welt 11.03.2015.
[14] Deutscher Bundestag, Drucksache 18/5653, 27.07.2015.
[15] James Stone: Bismarck and the Great Game: Germany and Anglo-Russian Rivalry in Central Asia, 1871-1890. In: Central European History, Jg. 48 (2015), Nr. 2, S. 151-175.
[16] David X. Noack: Die Ränkespiele der Großmächte im Raum Turkestan 1914-1919. In: Stefan Karner/Philipp Lesiak (Hg.): Erster Weltkrieg: Globaler Konflikt – lokale Folgen, Neue Perspektiven. Innsbruck/Wien/Bozen 2014, S. 403-426.
Erschienen auf german-foreign-policy.com, 07.10.2015.
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