»Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst.« — Franklin D. Roosevelt
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David X. Noack

Kritische Perspektiven auf Geschichte und internationale Politik

„Belarus‘ Platz in Europa“

Belarus und Russland verhandeln über engere Integration – zum Unwillen Berlins

Vor den Verhandlungen über eine engere Integration zwischen Belarus und Russland an diesem Freitag nehmen in der Bundesrepublik die Appelle für eine engere Anbindung Belarus‘ an die EU zu. Man müsse „engen Kontakt nach Belarus“ halten, erklärte ein Vertreter der Bundesregierung vor einigen Tagen auf einer Konferenz in Minsk, die von der Deutsch-belarussischen Gesellschaft unter dem Motto „Der Platz von Belarus in Europa“ durchgeführt wurde. Hintergrund sind Warnungen insbesondere neokonservativer Politiker, mit Blick auf die enge Kooperation zwischen Minsk und Moskau sei sogar Belarus‘ Beitritt zur Russischen Föderation nicht auszuschließen. Ein solcher Schritt würde Russland hochindustrialisierte Gebiete mit einem regional hohen Lebensstandard hinzufügen und seine Grenze mit den EU- und NATO-Staaten Polen, Litauen und Lettland verlängern. Er liefe – wie jede andere Stärkung Russlands, das gegen die bisherige westliche Hegemonie in der Weltpolitik aufbegehrt – dem strategischen Interesse Berlins zuwider.

Noch keine Einigung
Gerüchte, Belarus könne seinem Nachbarland, der Russischen Föderation, beitreten, machten das gesamte Jahr 2019 hindurch insbesondere in neokonservativen Kreisen in Deutschland und den USA die Runde. Der „Verlust der belarussischen Souveränität wäre ein weiterer Schlag des Kremls gegen die europäische Ordnung“, schrieb beispielsweise die ehemalige Bundestagsabgeordnete (Bündnis 90/Die Grünen) und derzeitige Osteuropadirektorin der neokonservativen Denkfabrik „Liberale Moderne“, Marieluise Beck, im September in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.[1] Die Gerüchte wurden befeuert durch Anfang Dezember getätigte Aussagen des belarussischen Botschafters in Moskau, wonach die Regierungen beider Staaten über ein gemeinsames Parlament und eine gemeinsame Regierung verhandelten.[2] Eine gemeinsame parlamentarische Versammlung hat die Belarussisch-Russische Union bereits. Der erste Gipfel des russischen Präsidenten Wladimir Putin und des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko am 7. und 8. Dezember – dem 20. Jahrestag der Gründung der Belarussisch-Russischen Union -, auf dem über eine engere Integration verhandelt wurde, verlief dann jedoch ergebnislos.[3] An diesem Freitag soll weiter verhandelt werden.

Die neoliberale Ära
Belarus durchlebte nach dem Zerfall der Sowjetunion bis zum Jahr 1994 zunächst eine Zeit der politischen Wirren. Liberale und Nationalisten regierten und versuchten, dem Land eine ökonomische Schocktherapie aufzuzwingen. Auf positiven Widerhall traf das nicht zuletzt in Deutschland. „Anschluss an die EG“ heiße „das Ziel“, erklärten belorussische Regierungsvertreter deutschen Journalisten im Jahr 1992.[4] Ein Anschluss an die Europäische Gemeinschaft (EG), aus der 1993 die Europäische Union (EU) hervorging, wäre durchaus im deutschen Interesse gewesen.

Annäherung an Russland
Der Westkurs des Landes erlebte jedoch schnell Rückschläge. Im Jahr 1993 hob das Parlament das Verbot der Kommunistischen Partei auf; die Mehrheitsfraktion in der Legislative erklärte die Wiedervereinigung mit Russland zum Ziel.[5] Für viele Beobachter in Berlin vollkommen überraschend gewann im Jahr 1994 dann auch noch der frühere Kolchosendirektor Alexander Lukaschenko die Präsidentschaftswahlen in Belarus mit 80,1 Prozent der abgegebenen Stimmen. Im Wahlkampf hatte Lukaschenko die Wiederherstellung der Sowjetunion, die Wiedereinführung der Planwirtschaft und den Stopp aller Privatisierungen gefordert.[6] Unter seiner Amtsführung entstand in Belarus in den folgenden zwei Jahrzehnten ein staatszentriertes Wirtschaftssystem bei gleichzeitig sehr guten Beziehungen mit Russland. EU- und NATO-Staaten, darunter Deutschland, setzten lange Jahre auf eine Regime Change-Politik, um das belorussische Modell zu beenden (german-foreign-policy.com berichtete [7]).

Neutrale Rolle in der Ukrainekrise
Gewisse Kräfteverschiebungen begannen, als die Staaten der EU und der NATO im Frühjahr 2014 den Umsturz in der Ukraine forcierten.[8] Moskau reagierte mit der Aufnahme der Krim sowie mit der Unterstützung russischsprachiger Aufständischer im Osten der Ukraine. Nach der Verhängung westlicher Sanktionen rutschte die russische Wirtschaft in die Rezession ab, worunter bis heute nicht zuletzt auch das mit Russland eng kooperierende Belarus leidet. Da die postsowjetischen Staaten insgesamt Belarus‘ wichtigster Exportmarkt sind, verhielt sich die Regierung Lukaschenko in der Krimfrage neutral und verbesserte ihre Beziehungen mit Georgien, der Republik Moldau und der Ukraine – trotz ihrer überaus engen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Allianz mit Russland. EU und USA begannen, schrittweise ihre Sanktionen gegen Belarus aufzuheben, um die Chance zu nutzen, die Belarus‘ Annäherung insbesondere an die Ukraine zu bieten schien, und die Eigenständigkeit des Landes gegenüber Russland zu stärken.[9]

Sparzwänge
Die Schwäche der russischen Wirtschaft und die Sekundärwirkungen der ökonomischen Zwangsmaßnahmen der EU- und der NATO-Staaten belasten Belarus weiterhin. In Moskau sinkt derweil aufgrund der angespannten ökonomischen Situation die Bereitschaft zur kostspieligen Unterstützung der Wirtschaft des kleinen Nachbarlandes. Durch ein „Steuermanöver“ erhält Belarus seit Neuestem nicht mehr verbilligtes russisches Rohöl und verliert dadurch allein in diesem Jahr rund 450 Millionen US-Dollar.[10] Ohne die Unterstützung aus Russland könnte das belorussische Modell langfristig ins Wanken geraten.

Integrationsgespräche
Nicht zuletzt unter dem Eindruck der schwierigen ökonomischen Lage begannen im Dezember vergangenen Jahres Integrationsgespräche zwischen Belarus und Russland. Wie die russische Zeitung Kommersant berichtete, sieht das dabei entwickelte „Aktionsprogramm“ vor, ein gemeinsames Zivilrecht sowie eine gemeinsame Sozialpolitik zu schaffen und die Integration im wirtschaftlichen Bereich weiter fortzuentwickeln. Verteidigung, die Judikative, Bildung, Wissenschaft und das Gesundheitswesen sind nicht Teil des Programms, das im Verlauf des Jahres 2020 umgesetzt werden soll.[11]

Aus der „Umklammerung befreien“
Insbesondere neokonservative Kreise im Westen befürchten nun, Belarus könne der Russischen Föderation sogar gänzlich beitreten – ganz so, wie es bereits 1993 angedacht war -, und fordern rasche Gegenmaßnahmen. Die frühere Bundestagsabgeordnete Beck etwa erklärt, „eine kreative Antwort der EU“ sei gefragt, „um Belarus aus der Umklammerung der eurasischen Union zu befreien“. Tatsächlich war Belarus Gründungsmitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und sieht sich von dieser keinesfalls „umklammert“. Beck plädiert dafür, den Einfluss der EU auf Belarus‘ Bevölkerung zu stärken: „Visafreiheit und Ryanair wären wie Sauerstoff für die belarussische Zivilgesellschaft“.[12] Anfang Dezember hielt sich der Koordinator der Bundesregierung für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft, Dirk Wiese, zum diesjährigen „Minsk-Forum“ in der belarussischen Hauptstadt auf, das dieses Jahr unter dem Motto „Der Platz von Belarus in Europa“ stand. Wiese erklärte dazu, es sei ihm „ein besonderes Anliegen …, dass die deutschen politischen Stiftungen … wieder mit Büros in Belarus vertreten sein können“.[13]

Neuer Partner China
Oft übersehen wird in der westlichen Fixierung auf Russland die beispiellose Annäherung zwischen Belarus und China. Jüngst vergab die Volksrepublik etwa einen Kredit über 500 Millionen US-Dollar an Belarus, was in Minsk den Bedarf an einem parallel verhandelten russischen Kredit über 600 Millionen US-Dollar rapide sinken ließ. Einer japanischen Analyse zufolge setzte Beijing bis 2014 auf die Ukraine als Brücke nach Europa, schwenkte aber nach dem Beginn des ostukrainischen Bürgerkriegs und des wirtschaftlichen Kollapses dort [14] auf Belarus als neue Landbrücke nach Europa um.[15] Inzwischen hat Belarus laut Einschätzung der bundeseigenen Außenwirtschaftsagentur Germany Trade & Invest (gtai) gute Chancen, ein „wichtiger Knotenpunkt an der neuen Seidenstraße zu werden“.[16]

[1] Marieluise Beck, Ralf Fücks: Putin greift jetzt nach Weißrussland. faz.net 02.09.2019. Erweiterte Fassung: Marieluise Beck: Lukaschenka in der Klemme. libmod.de 03.09.2019.
[2] Are Russia and Belarus Creating a Unified Cabinet and Parliament? themoscowtimes.com 09.12.2019.
[3] Latest Russia-Belarus Integration Talks Fall Flat. themoscowtimes.com 09.12.2019.
[4] Heiko Flottau: Unter der neuen Fassade lebt die alte Ideologie. Süddeutsche Zeitung 23.12.1992.
[5] „Wiedervereinigung mit Rußland“. Süddeutsche Zeitung 20.08.1993.
[6] Neue Präsidenten für engere Bindung an Moskau. Süddeutsche Zeitung 12.07.1994.
[7] S. dazu Zwei Partner entzweien.
[8] S. dazu Koste es, was es wolle und Vom Stigma befreit.
[9] S. dazu Zwei Partner entzweien.
[10] Felix Eick: Das Geschäftsmodell von Europas letzter Diktatur zerbricht. welt.de 17.10.2019.
[11] Kamil Klysinski, Katarzyna Chawrylo, Iwona Wisniewska: The failure of the Russian-Belarusian summit. osw.pl 12.09.2019.
[12] Marieluise Beck: Lukaschenka in der Klemme. libmod.de 03.09.2019.
[13] Koordinator Dirk Wiese anlässlich seiner Reise nach Belarus. auswaertiges-amt.de 04.12.2019.
[14] S. dazu Fünf Jahre Kollaps.
[15] Grigory Ioffe: Vladimir Makei: Belarus Wants to Become East European Switzerland. jamestown.org 18.11.2019.
[16] Fabian Nemitz: Belarus wird wichtiges Transitland auf der neuen Seidenstraße. gtai.de 06.09.2019.

Erschienen auf: german-foreign-policy.com 18.12.2019.

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