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David X. Noack

Kritische Perspektiven auf Geschichte und internationale Politik

Rezension: Nicht einen Schritt weiter nach Osten

Mary Elise Sarotte zeichnet die Verhandlungen über die deutsche Einheit und die Frage der NATO-Ostausdehnung im Jahr 1990 nach.

Das Versprechen an die Sowjetunion, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, hat es nie gegeben? Westdeutsche und US-amerikanische Politiker haben dies in den Verhandlungen über die deutsche Einheit der sowjetischen Seite, die das Vorrücken des westlichen Bündnisses in Richtung Moskau verhindern wollten, nie in Aussicht gestellt? Man kennt sie, diese Mythen, die jahrzehntelang von interessierten Kreisen in Deutschland und anderen – vor allem westlichen – Ländern verbreitet wurden. Mary Elise Sarottes Buch „Nicht einen Schritt weiter nach Osten – Amerika, Russland und die wahre Geschichte der NATO-Osterweiterung“ räumt mit einigen dieser Mythen auf. Sie zeichnet dazu die Verhandlungen zwischen Bonn und Washington untereinander als auch die Verhandlungen dieser Regierungen auf der einen und Moskau auf der anderen Seite detailliert nach – von der frühen Zusage des damaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher, es werde „eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten … nicht geben“, bis zu den mageren Zusagen des 2+4-Vertrags, denen zufolge auf dem Gebiet der ehemaligen DDR keine NATO-Truppen stationiert werden dürfen. Wirklich neu sind ihre Erkenntnisse über die komplexe Entwicklung des Jahres 1990 freilich nicht.

Die US-Historikerin Mary Elise Sarotte, Inhaberin des renommierten Lehrstuhls Marie-Josée and Henry R. Kravis Distinguished Professorship of Historical Studies an der Johns Hopkins University in der US-Hauptstadt Washington, zeichnet in ihrem Buch nach, wie vor allem die bundesdeutsche und die US-amerikanische Regierung nach dem Fall der Mauer im November 1989 mit der sowjetischen Regierung über die deutsche Einheit und die Gestaltung der Sicherheitsarchitektur in Deutschland und Europa verhandelten. Besonders deutlich werden dabei die verschiedenen Interessen in Bonn und Washington und auch die unterschiedlichen Ansichten einzelner Politiker wie beispielsweise des damaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP) und des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl (CDU) – weniger jedoch die Positionen der einzelnen Politiker aus Moskau.

Sarotte hatte wesentliche Aspekte des Buches, das im englischen Original den etwas weniger reißerischen Titel „Not One Inch: America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate“ trägt, bereits in zwei früheren wissenschaftlichen Aufsätzen nüchtern und ausgewogen dargelegt.[1] Im Gegensatz zu diesen sehr lesenswerten Artikeln ist ihre neue Publikation unnötig blumig und dramatisierend geschrieben und beginnt etwa mit einer Anekdote aus Dresden am 5. Dezember 1989, bei der der ranghöchste anwesende Offizier ein junger KGB-Oberleutnant namens Wladimir Putin war. Die Schilderungen aus dem östlichsten Bezirk der damaligen DDR sind zwar interessant, stehen aber in keinem Zusammenhang mit der zentralen Argumentation des Buches.

Nach dem holprigen Start beschreibt Sarotte, wie BRD-Außenminister Genscher in einer Rede auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing im Januar 1990 ankündigte, es werde „eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt näher an die Grenzen der Sowjetunion […] nicht geben“. Das Versprechen, die NATO nicht zu erweitern, ermöglichte vielleicht überhaupt erst die Verhandlungen über die deutsche Einheit, traf aber intern auch auf Widerspruch. So wandte sich der damalige BRD-Botschafter in Moskau, Joachim von Arnim, gegen diese Zusage. NATO-Generalsekretär Manfred Wörner wiederum, ein ehemaliger CDU-Verteidigungsminister, plädierte für einen „Sonderstatus der DDR“. Auch US-Außenminister James Baker stimmte Michail Gorbatschows Äußerung zu, „eine Ausdehnung der NATO-Zone“ sei „inakzeptabel“.

Während so die Tür für Gespräche über die deutsche Einheit geöffnet wurde, verhandelten zunächst die Außenminister der USA und der UdSSR über das Format, in dem die Modalitäten des Beitritts von Westberlin und der DDR zur BRD geklärt werden sollten. Sarotte beschreibt detailliert, welche der hauptsächlich westdeutschen und US-amerikanischen Spitzenpolitiker wann und wo über welche Details verhandelten. In Moskau beschleunigte sich jedoch der Zerfall der Sowjetunion, was rapide die Voraussetzungen der Gespräche veränderte. Im März 1990 spaltete sich Litauen von der UdSSR ab, im Mai folgte Lettland, im August Estland. Ungarn und Polen hatten sich derweil schon faktisch aus der Warschauer Vertragsorganisation und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe verabschiedet.

Nicht nur die äußeren Grenzen der Sowjetunion verschoben sich im Verlauf des Jahres 1990; auch innenpolitisch veränderte sich die Lage dramatisch, als mit Boris Jelzin ein Gegenspieler zu Gorbatschow aufstieg, der die Alleinherrschaft der traditionellen Eliten und der seit 1917 regierenden Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) infrage stellte. Im Mai 1990 wählte das Parlament der russischen Teilrepublik der UdSSR Jelzin zum Parlamentspräsidenten, was bei Gorbatschow „zu Bestürzung“ führte, wie Sarotte formuliert.

Besonders interessant an Sarottes Ausführungen ist die Dekonstruierung des damaligen KPdSU-Parteichefs Michail Gorbatschows. Während er in Deutschland bis heute großes Ansehen genießt, da er eine Schlüsselrolle beim Ende der Sowjetunion und bei der deutschen Einheit spielte, zeichnet Sarotte nach, wie dilettantisch er in der Außen- und Sicherheitspolitik vorging. Während die Grundlagen des seit über vier Jahrzehnten existierenden sowjetischen Einflusses dahinschwanden und die sowjetische Staats- und Parteiführung mit der Neuorientierung einst verbündeter Staaten und der Abspaltung einzelner Teilrepubliken umgehen musste, war Gorbatschow zu Zugeständnissen bereit, die andere sowjetische Politiker strikt ablehnten.

Bei dem Washingtoner Gipfel Ende Mai/Anfang Juni 1990 wandten sich schließlich mit Walentin Falin und Sergei Achromejew zwei seiner führenden Berater fast offen gegen ihn. Falin war früherer sowjetischer Botschafter in der BRD und zum Zeitpunkt der Verhandlungen Leiter der Internationalen Abteilung des ZKs der KPdSU. Achromejew wiederum war ein sowjetischer Militär, Marschall der Sowjetunion und militärischer Berater Gorbatschows. Seine Frustration über Gorbatschows Zugeständnisse nahm im Lauf der Zeit immer weiter zu; später, im August 1991, bot er den restaurativen Putschisten seine Hilfe an und wählte nach deren Scheitern den Freitod.

Falin wiederum hatte bereits im April 1990 realisiert, dass die von US-Außenminister Baker und anderen westlichen Politikern anfangs noch getroffenen Aussagen über die Nichtausdehnung der NATO mittlerweile aus den Reden und Communiqués der westdeutschen und der US-amerikanischen Regierungen verschwunden waren. Die Verhandlungen über die deutsche Einheit schritten dennoch voran. Gorbatschow verhandelte weiter und versuchte, die Falken in den eigenen Reihen politisch in die Schranken zu weisen.

Am Ende der Verhandlungen um die deutsche Einheit stand der 2+4-Vertrag. Aus den mündlichen Zusagen, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen, war die dürre Klausel geworden, die neuen Bundesländer würden nicht in die militärischen Strukturen des Bündnisses integriert, und es dürften dort keine NATO-Truppen dauerhaft stationiert sein. Die Nicht-Integration in die militärischen Strukturen folgte dabei den Vorbildern Frankreichs (1966 bis 2009), Griechenlands (1974 bis 1980) und Spaniens (1982 bis 1999), die allesamt später wieder in die militärischen Bündnisstrukturen zurückkehrten (im Gegensatz zu Ostdeutschland).

Auf vier detaillierte Kapitel zu den Verhandlungen von Ende 1989 bis zum 3. Oktober 1990 folgen vier weitere Kapitel, die einen größeren Zeitraum abdecken – bis zum Abtritt des russischen Präsidenten Jelzin und dem Aufstieg von Wladimir Putin zum Premierminister und später Präsidenten der Russischen Föderation im Jahr 1999. Darin geht es unter anderem um die Diskussionen über die NATO-„Partnerschaft für den Frieden“ und den Wechsel der US-Strategie hin zur NATO-Ostexpansion. Beide Themen wurden bereits von Sarotte und anderen Historikern knapp und überzeugend in wissenschaftlichen Artikeln behandelt.[2]

Aus wissenschaftlicher Sicht zu kritisieren ist, dass das Buch zum großen Teil auf Zeitzeugen-Interviews aufbaut, wobei die Gespräche teilweise Jahrzehnte nach den beschriebenen Ereignissen durchgeführt wurden – das letzte sogar erst im April 2021. Darüber hinaus hat Sarotte zwar eine Reihe von Archiven in Westeuropa und den USA konsultiert, aus Russland jedoch nur eine Handvoll Akten aus dem Archiv der Gorbatschow-Stiftung gehoben. Die sowjetische Perspektive bleibt somit marginal und teilweise wenig nachvollziehbar.

Sarottes Verdienst ist es, dass sie ein für allemal mit dem Mythos bricht, es habe im Zusammenhang mit den Verhandlungen zur deutschen Einheit keinerlei Versprechen gegeben, die NATO nicht nach Osten auszudehnen.[3] Ob das vorliegende Buch dazu nötig war, mag man freilich bezweifeln: In ihren beiden wissenschaftlichen Aufsätzen zum Thema hat Sarotte selbst kondensiert zentrale Punkte ihrer Argumentation dargelegt – ohne zähe Beschreibungen diverser Gespräche, unnötige Ausschweifungen und blumige Beschreibungen einzelner Details.

Mary Elise Sarotte: Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der NATO-Osterweiterung. C.H. Beck. München, 2023. 397 Seiten. 28,00 Euro.

[1] Mary Elise Sarotte: How to Enlarge NATO: The Debate inside the Clinton Administration, 1993–95, in: International Security, Jg. 44 (2019), Nr. 1, S. 7–41 und Mary Elise Sarotte: Not One Inch Eastward? Bush, Baker, Kohl, Genscher, Gorbachev, and the Origin of Russian Resentment toward NATO Enlargement in February 1990, in: Diplomatic History, Jg. 34 (2010), Nr. 1, S. 119–140.

[2] Sarotte: How to Enlarge NATO und Joshua R. Itzkowitz Shifrinson: Eastbound and down: The United States, NATO enlargement, and suppressing the Soviet and Western European alternatives, 1990–1992, in: Journal of Strategic Studies, Jg. 43 (2020), Nr. 6/7, S. 816–846.

[3] In den 2000er Jahren behaupteten sogar renommierte Historiker, es habe solch ein Versprechen nie gegeben: Mark Kramer: The Myth of a No-NATO-Enlargement Pledge to Russia, in: The Washington Quarterly, Jg. 32 (2009), Nr. 2, S. 39–61.

Erschienen auf german-foreign-policy.com, 06.03.2025.
Artikel bei GFP erscheinen im Rahmen einer Redaktionsarbeit und sind nicht als Autorenartikel zu sehen.

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