»Wer die Freiheit aufgibt um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.« — Benjamin Franklin
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David X. Noack

Kritische Perspektiven auf Geschichte und internationale Politik

Fällt Georgien jetzt wirklich an Moskau?

Opposition bauschte Gesetzesvorschlag zu Registrierung ausländischer Akteure auf. Angebliche Neuorientierung der Außenpolitik. Was es mit dem Streit wirklich auf sich hat.

Mehrere Wochen lang thematisierten deutsche Journalisten und Politiker den Streit um ein Gesetz im kaukasischen Georgien mit sensationsheischenden Schlagwörtern. Der Grundtenor schien eindeutig: Die Regierung in Tiflis führe das Land, welches vor 15 Jahren noch in einem Krieg gegen Russland unterlag, direkt in Moskaus Arme.

Ein Fünftel des georgischen Staatsgebietes habe die russische Armee angeblich bereits besetzt und nun gehe es weiter. Mit der politischen Lage in dem Land mit dreieinhalb Millionen Einwohnern hatten diese Darstellungen recht wenig zu tun.

Unmittelbar nach der Unabhängigkeit Georgiens zerfiel das Land in verschiedene Teile. Eine Mehrheit der georgischen Bevölkerung wählte den aus dem Adel stammenden Nationalisten Swiad Gamsachurdia an die Spitze der Republik. Gegen dessen extreme Politik wandten sich diverse regionale Eliten, welche aus der Kontrolle von zentralen Verkehrsachsen, Grenzübergängen oder wichtigen Industriezweigen Profit schlugen.

Zwei Kriege verlor die Zentralregierung in Tiflis und hatte fortan keinen Zugriff mehr auf die beiden Separatistenrepubliken Südossetien am Rok-Tunnel und das touristisch attraktive Abchasien am Schwarzen Meer. Andere Gebiete wie das mehrheitlich muslimische Adscharien spalteten sich ganz ohne Kampfhandlungen ab.

Unter dem gemäßigten Gamsachurdia-Nachfolger Eduard Schewardnadse bahnten sich ab Ende der 1990er-Jahre politische Lösungen für mehre der Konflikte an. Südossetien galt dabei als der Konflikt, der einer Lösung am nächsten kam.

Mit der Unterzeichnung des so genannten Baden-Dokuments im baden-württembergischen Baden-Baden schlossen alle Seiten Gewalt als Möglichkeit aus. Eine politische Lösung des Konfliktes rückte damit in den Bereich des Machbaren. Nicht ganz so weit kam es im Fall Abchasiens. Ende der 1990er hob Russland im Rahmen der GUS vereinbarte harsche Sanktionen gegen die De-facto-Republik auf.

Um zu verhindern, dass das Gebiet Georgien entglitt, intensivierte Schewardnadses Regierung die politischen Anstrengungen. Bei einem politischen Durchbruch im Frühjahr 2003 einigte man sich auf die Wiedereröffnung der wichtigen Eisenbahnverbindung zwischen Sotschi und Tiflis.

Doch dazu kam es nicht: Ein Eingreifen der US-Regierung gepaart mit großem Unmut in einer der ärmsten sowjetischen Folgerepubliken brachte im Jahr 2003 den nationalistischen Neoliberalen Micheil Saakaschwili an die Staatsspitze. Dieser richtete sein Land wie noch nie zuvor an der EU und den USA aus. Tausende georgische Soldaten gingen nach Afghanistan und den Irak, um dort an der Seite der EU- und Nato-Truppen zu dienen.

Die Neuorientierung brachte viele Lorbeeren aus Übersee: Im Jahr 2005 schlugen die US-Senatoren John McCain und Hillary Clinton Saakaschwili für den Friedensnobelpreis vor. Daraus wurde nichts und im Laufe von Saakaschwilis Amtszeit wurde klar, dass der Präsident sein Land nicht nur an den USA ausrichtete, sondern explizit Kontakte zu den Neokonservativen in der Regierung des damaligen US-Präsidenten George Bush suchte. Was kurzfristig große Erfolge versprach, stellte sich langfristig als keine überzeugende Strategie heraus.

Mit einer Politik von Zuckerbrot und Peitsche gelang es Saakaschwili, mehrere abtrünnige Gebiete wieder in den Einflussbereich der Zentralregierung zu bringen. Nach dem Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008, auf welchem dem Land eine Beitrittsperspektive präsentiert wurde, sah er sich gestärkt und wollte Südossetien im Handstreich einnehmen. Anfang August begann dort eine georgische Offensive.

Georgische Offensive gegen abtrünnige Gebiete scheiterte

Die Planung für diesen Vorstoß entwarfen Militärs des Kaukasuslandes gemeinsam mit internationalen Militärberatern. Als Vorlage diente die kroatische „Operation Sturm“ des Jahres 1995. Saakaschwili hoffte, mit der Rückendeckung der Neokonservativen in der US-Regierung sein Ziel zu erreichen.

Es kam ganz anders: Die russische Armee schlug zurück und vertrieb die georgischen Truppen aus Abchasien und Südossetien. Moskau erkannte daraufhin die Unabhängigkeit der beiden Sezessionsrepubliken an und verhinderte somit eine Aufnahme Georgiens in die Nato, da Beitrittskandidaten keine Grenzkonflikte haben dürfen.

Tiflis erklärte die abtrünnigen Republiken zu russisch-besetztem Gebieten – was zumindest strittig ist. Die EU und USA schlossen sich dieser georgisch-nationalistischen Lebenslüge an.

Innenpolitisch geriet Saakaschwili immer mehr in die Defensive. Ein autoritärer Führungsstil und Korruption auf höchster Ebene sorgten für Unmut. Infolge der Weltwirtschaftskrise sackte dann auch noch das Bruttoinlandsprodukt um ein Fünftel ab. Letztendlich stürzte der Nationalist über einen Skandal wegen der Misshandlungen Gefangener durch die Polizei.

Das Ende von Saakaschwilis Herrschaft läutete 2011 die Ankündigung Bidsina Iwanischwilis ein, eine eigene Partei zu gründen. Einst mit dem Präsidenten verbündet, wandte sich der Oligarch nach dem Kaukasuskrieg von dem Staatsoberhaupt ab. Iwanischwili gründete das politische Bündnis „Georgischer Traum“ um die gleichnamige Partei und das Bündnis gewann die Parlamentswahlen 2012.

Iwanischwili selbst wurde Premier und einer seiner Verbündeten gewann die Präsidentschaftswahl 2013. Der mächtigste Oligarch des Landes hatte nach der politischen Macht gegriffen und konnte sie im Handstreich nehmen.

Wirtschaftlich hatten radikal neoliberale Maßnahmen unter Saakaschwili das Land ruiniert. Viele Industriebetriebe gingen angesichts der Konkurrenz aus dem Westen in Konkurs. Im Jahr 2011 rückten zum ersten Mal gebrauchte Autos zum Hauptexportgut auf.

Neben dem Bergbau und den Überweisungen von Arbeitsmigranten aus dem Ausland manifestierte sich somit der wirtschaftliche Charakter des Landes. Die Geldverschickungen von Arbeitsmigranten erlebten einen Dämpfer, als Griechenland zur Austerität gezwungen wurde – in dem südosteuropäischen Land lebte damals mit 150.000 Georgiern die größte georgische Community in der EU. Das Griechenland-Austrittsdiktat brachte auch Georgien in die Bredouille.

Offiziell zog sich Iwanischwili 2013 aus der georgischen Politik zurück, agiert aber bis heute weiter als Strippenzieher seiner Partei. Sein Konkurrent Saakaschwili entzog sich der juristischen Aufarbeitung seiner autoritären Präsidentschaft und floh 2013 zunächst in die USA. Seine nationalistische Partei spaltete sich mehrmals.

Nach dem Staatsstreich in Kiew im Februar 2014 versuchte sich Saakaschwili als ukrainischer Regionalpolitiker, amtierte anderthalb Jahre als Gouverneur der Schwarzmeerregion Odessa und verlor parallel die georgische Staatsbürgerschaft. Nachdem er in Odessa auch gescheitert war, verlor er für zwei Jahre auch noch den ukrainischen Pass. Seitdem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ihm diesen zurückgab, ist Saakaschwili, der Anführer der georgischen Nationalisten, ausschließlich ukrainischer Staatsbürger.

„Marsch auf Tiflis“ endete im Gefängnis

Im Oktober 2021 kehrte der Ex-Präsident in sein Heimatland zurück und rief zu einem Marsch auf Tiflis auf. Die Behörden nahmen ihn jedoch sofort fest und seitdem sitzt er in Haft.

Das Georgien, in welches Saakaschwili 2021 zurückkehrte, hatte sich außenpolitisch umorientiert. Mit Iwanischwilis Amtsantritt begann die Aussöhnung mit Russland. Seit dem Jahr 2012 trafen sich hochrangige Vertreter beider Seiten und 2019 kam es zu einem ersten Treffen der Außenminister beider Länder. Trotz des Drucks aus der Ukraine und dem Westen verhängte die Regierung in Tiflis nach 2014 keine Sanktionen gegen den nördlichen Nachbarn.

Die Verbesserung der Beziehungen waren auch wirtschaftlich unterfüttert: Von 2012 bis 2019 verzehnfachte sich der georgische Export nach Russland und die Einfuhren aus dem Nachbarland in die Kaukasusrepublik verdoppelten sich. Russland gewann zudem durch Visaerleichterungen wieder an Attraktivität als Ziel georgischer Arbeitsmigranten, die nach der Griechenlandkrise bereit waren, nach neuer Arbeit im Ausland zu suchen.

Trotz der Wiederannäherung an Russland blieb die georgische Regierung beim Ziel der Westintegration. Im September 2014 trat ein tiefes Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union in Kraft. Im Jahr 2018 begannen darüber hinaus Gespräche über ein Freihandelsabkommen mit den USA.

Zwei Jahre später begann die georgische Regierung, mit israelischen Vertretern über den Kauf eines neuen Flugabwehrsystems zu verhandeln. Zwar gab es eine relative Annäherung an Moskau – aber die Westintegration wurde nicht aufgegeben. Bis heute unterhalten Moskau und Tiflis keine diplomatischen Beziehungen miteinander und die georgische Regierung ist auch nicht vom nationalistischen Diktum der russischen Besatzung Abchasiens und Südossetiens abgerückt.

Statt einer einseitigen Annäherung an irgendeine Macht navigiert Tiflis zwischen den Großmächten China (u.a. über das Projekt „One Belt, One Road“), der EU, Russland und den USA sowie kleineren Mächten wie der Ukraine, dem Iran, Israel und der Türkei. Für Neokonservative im Westen und die georgischen Nationalisten ist solch ein kompliziertes Austarieren jedoch schon eine gefährliche Annäherung an Russland.

Bis in die Gegenwart ist Saakaschwili eng mit den Neocons verbandelt. Für die Regierung in Tiflis das Fass zum Überlaufen brachte eine von der US-Regierung veröffentlichte Meldung der Anwaltskanzlei Akerman LLP von Anfang Februar.

Das Unternehmen mit über 100 Büros in den USA hatte über 900.000 US-Dollar von Saakaschwilis Mutter Giuli Alasania erhalten, um den Ex-Präsidenten durch Lobbying, Medienkampagnen und die Veröffentlichung gezielter medizinischer Erkenntnisse aus dem Gefängnis zu befreien. Unter anderem soll Akerman LLP ausländische Würdenträger, sogenannte Vordenker, Nichtregierungsorganisation und vor allem US-Diplomaten auf Saakaschwilis Haft aufmerksam machen. Die Meldung gab es nur, da das Registrierungsgesetz für Auslandsvertreter („Foreign Agents Registration Act“, Fara) das vorschreibt.

Um zu verhindern, dass vom Ausland finanzierte Nichtregierungsorganisationen in die georgische Innenpolitik hineinregieren, brachte der „Georgische Traum“ im Parlament zwei Gesetze auf den Weg, die sich am Fara orientierten – jedoch noch nicht einmal so weit gingen wie das US-Gesetz.

NGOs spielen in verarmten post-sowjetischen Republiken eine herausragende Rolle: Aufgrund des Einflusses vom Ausland finanzierter NGOs galt Kirgisistan in den 1990er-Jahren als „globalisiertes Protektorat„. Auch in der Ukraine nach dem Putsch des Jahres 2014 spielten neoliberale NGOs, die mit internationalen Vertretern über Bande interagierten, eine bedeutende Rolle.

Solch einer zu starken Rolle aus dem Ausland finanzierter Organisationen wollte die georgische Regierung – vor allen angesichts der engen Verbandelung Saakaschwilis mit den Neocons – einen Riegel vorschieben.

Doch dagegen mobilisierten die nationalistische Opposition und neoliberale NGOs. Sie brandmarkten das nach US-Vorbild entworfene Gesetz als „russisches Gesetz“ und organisierten Demonstrationen. Auf denen schwenkten dann Protestierer EU-Fahnen, während Nationalisten dazu aufriefen, das abtrünnige Abchasien zu erobern. Beobachter zogen schon Parallelen zu den Maidan-Protesten.

Im Westen sprangen viele Journalisten und Politiker auf den Zug auf und malten den Teufel an die Wand: Georgien drohe in Richtung Russland abzudriften. Die deutsche Außenministerin reiste nach Tiflis, um „deutlich [zu] machen, dass Deutschland rundum zur europäischen Perspektive Georgiens“ stünde.

Aufgrund des Drucks von innen und außen zog die Regierungsmehrheit im Parlament das Gesetz zurück. Die Gefahr, dass die nationalistische Opposition und neoliberale NGOs versuchen, über die ausländische Bande zu spielen, besteht weiterhin.

In Berlin, Brüssel und Washington wird das bestimmt nicht ungern gesehen, da somit die immer eigenständigere georgische Regierung – die sich auch nach dem Beginn des Ukrainekriegs gegen Sanktionen gegen Russland stellt – unter Druck gesetzt zu werden. Eine außenpolitische Neuorientierung Georgiens in Richtung Moskau drohte zu keinem Zeitpunkt.

Erschienen auf heise.de, 22.04.2023.

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