Die neue „Neue Ostpolitik“ (II)
Im Zuge seines neuen Einflussstrebens im Südkaukasus im Machtkampf gegen Russland bemüht sich Berlin neben einem Ausbau seiner Beziehungen zu Georgien und zu Aserbaidschan auch um eine stärkere Anbindung Armeniens. Man wolle die Zusammenarbeit mit Eriwan intensivieren, bestätigte Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich bei ihrem Kurzbesuch in dem Land. Armenien ist eines der ärmsten Länder Europas und das ärmste des Südkaukasus. Gebeutelt von zwei Jahrzehnten neoliberaler Rosskur, einem Krieg mit Aserbaidschan und andauernden Konflikten mit dem NATO-Mitglied Türkei flüchtete es sich im Jahr 2015 unter den Schutzschirm Russlands und trat der von Moskau dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion bei. Im Frühling dieses Jahres brachte dann allerdings ein durch die anhaltende Korruption befeuerter Umsturz eine neue Regierung in Eriwan ins Amt. Der neue Premierminister Nikol Paschinjan gilt als ausgesprochener Kritiker mehrerer von Russland geführter Bündnisse und damit als Hoffnungsträger deutscher Politikstrategen.
„Samtene Revolution“
Die Demonstrationen, die Paschinjan letztlich an die Macht brachten, begannen Ende März 2018 unter der Führung der wirtschaftsliberalen YELK-Wahlallianz (Yelk bedeutet im Armenischen „Ausweg“) mit Protesten gegen die konservative Regierung unter Sersch Sargsjan. Dieser schied im April aus dem Amt des Staatspräsidenten aus und wollte als Premierminister weiterregieren. Der YELK-Wahlallianz schlossen sich die Parteien der Freien Demokraten und des Armenischen Nationalkongresses (HAK) an.[1] Beide sind ebenfalls ausgesprochen wirtschaftsliberal; die Freien Demokraten befürworten darüber hinaus einen Austritt Armeniens aus der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU), die das Land mit Russland und einigen weiteren postsowjetischen Staaten gebildet hat.[2] Westliche Medien wie der US-Propagandasender „Radio Free Europe“ unterstützten die Proteste gegen Sargsjan, indem sie Reportagen darüber rund um die Uhr live übertrugen.[3] Die Demonstrationen waren erfolgreich; Anfang Mai wurde Nikol Paschinjan, der Anführer der YELK-Wahlallianz, zum neuen Premierminister gewählt. Außenminister Heiko Maas (SPD) erklärte im Juni 2018 dazu, die Bundesregierung habe die „Veränderungen in Armenien im Frühling mit viel Wohlwollen beobachtet“.[4]
Kritiker des russischen Bündnissystems
Der neue Premier Paschinjan gilt als ausgewiesener Kritiker der Eurasischen Wirtschaftsunion und der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS); erstere vereint Armenien mit Belarus, Kasachstan, Kirgisistan und Russland zu einem Wirtschaftsverbund, zweitere ist ein Militärblock, dem über die EAWU-Mitglieder hinaus noch Tadschikistan angehört. Beide Bündnisse gelten als von Moskau dominiert. Als oppositioneller Parlamentarier hatte Paschinjan im September 2017 kritisiert, die OVKS habe Armenien in keinem Falle bei seinen Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan unterstützt.[5] Im selben Monat legte seine Parlamentsfraktion einen Gesetzesentwurf vor, der einen Austritt Armeniens aus der EAWU vorsah.[6] Dies entsprach der Festlegung der YELK-Allianz in ihrem Wahlprogramm, der Beitritt zur EAWU sei ein Fehler gewesen; stattdessen solle Armenien ein weitreichendes Freihandelsabkommen mit der EU anstreben.[7] Ein Austritt Armeniens aus der Eurasischen Wirtschaftsunion läge eindeutig im Interesse der deutschen Bundesregierung.
„Europäisch fühlende“ Amateure
Entsprechend versicherte Maas seinem neuen armenischen Amtskollegen Zohrab Mnatsakanyan bei dessen Antrittsbesuch in Berlin im Juni 2018, Deutschland wolle Armenien bei seinem „bereits angestoßenen Reformprozess unterstützen“ – denn „die Armenier denken und fühlen in vielfacher Hinsicht europäisch“. Deutschland ist nach den USA der zweitgrößte Geber von Entwicklungshilfe für das Land.[8] Als im Juli der neue Premierminister Paschinjan zum Antrittsbesuch in Brüssel war, riefen seine Äußerungen allerdings skeptische Reaktionen hervor: Der neue Premierminister habe unrealistische Vorstellungen über etwaige EU-Unterstützungsleistungen, hieß es; seine Regierung handle amateurhaft.[9] Während seines Besuchs in Brüssel traf Paschinjan auch das erste Mal Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).
Unklare Zeichen
Seit seinem Amtsantritt gibt sich Paschinjan zudem weitaus vorsichtiger in der Frage der armenischen Beziehungen zu Russland. Vor seinem ersten Treffen mit dem russischen Präsidenten zeigte sich ein enger Berater Wladimir Putins mit Blick auf Paschinjan kritische Äußerungen zur EAWU und zur OVKS skeptisch. Nach ihrem ersten Treffen erklärten Paschinjan und Putin jedoch, die langjährige Zusammenarbeit beider Länder ausbauen zu wollen.[10] Ein Austritt Armeniens aus den von Moskau geführten Bündnissen scheint demnach nicht mehr auf der Tagesordnung zu stehen. Kurz nach seinem Amtsantritt begrüßte der neue armenische Premierminister darüber hinaus ein Freihandelsabkommen zwischen der EAWU und Iran.[11] Eine Annäherung Irans an ein von Russland geführtes Bündnis liegt definitiv nicht im Interesse der Bundesregierung.
Die Herrschaft der Oligarchen
Die Bemühungen der Bundesrepublik, größeren Einfluss auf Armenien zu erlangen, reichen weit zurück. Das Land gilt bereits seit mehreren Jahrzehnten als von Oligarchen dominiert. Die Herrschaft wirtschaftlich einflussreicher „Clans“ begann bereits unter dem ersten Präsidenten Lewon Ter-Petrosjan (im Amt 1991 bis 1998). Zu dieser Zeit wechselte die Regierung nahezu alle wirtschaftlichen Führungsposten aus und propagierte das Ziel einer „freien Marktwirtschaft“.[12] Im Verlauf von Ter-Petrosjans Amtszeit gewannen die Oligarchen immer größeren Einfluss. Dies mündete in einen kalten Putsch, in dessen Verlauf eine Gruppe oligarchenfreundlicher Politiker wie Sersch Sargsjan den Rücktritt von Präsident Ter-Petrosjan erzwangen.[13] Lange Zeit galt Nikol Paschinjan als Ter-Petrosjans rechte Hand. In der Wahlperiode von 2008 bis 2013 war er Abgeordneter des von Levon Ter-Petrosjans geführten HAK. Der HAK wiederum ist Mitglied der liberalen Partei Alliance of Liberals and Democrats for Europe (ALDE), der unter anderem die FDP angehört. Erst im Jahr 2015 spaltete Paschinjan seine eigene Partei von der HAK ab.
Kupfer und Molybdän
Die Ära des früheren armenischen Präsidenten Ter-Petrosjan markierte auch den Beginn des Einstiegs deutscher Unternehmen in den armenischen Rohstoffsektor. So startete die Karlsruher Cronimet-Gruppe bereits Mitte der 1990er Jahre ihre Aktivitäten im armenischen Kupfer- und Molybdänabbau.[14] Im Zuge mehrerer Privatisierungswellen in den 1990ern und 2000er Jahren verkaufte die armenische Regierung auch das in Südarmenien gelegene Sangesurer Kupfer- und Molybdänkombinat (ZCMC) an private Eigner; 60 Prozent der Anteile übernahm Cronimet. ZCMC betreibt eines der größten Kupfer- und Molybdänbergwerke in Armenien und ist mit rund 3.000 Mitarbeitern einer der größten privaten Arbeitgeber und der größte Steuerzahler des Landes. Die in Armenien geförderten Rohstoffe werden nach Deutschland exportiert und dann von Karlsruhe aus vermarktet.[15]
Militärische Kooperation
Bereits seit anderthalb Jahrzehnten arbeitet darüber hinaus auch die Bundeswehr mit Armenien zusammen. Während deutsche Rüstungskonzerne aufgrund eines OSZE-Embargos keine Waffen nach Armenien liefern können, kooperieren deutsche Soldaten eng mit den armenischen Streitkräften. Truppen der Kaukasusrepublik werden von Bundeswehrangehörigen trainiert und nehmen dann als Hilfstruppen an NATO-geführten Auslandseinsätzen teil; so schickt die Bundeswehr bereits seit Mitte der 2000er Jahre immer wieder Soldaten als Berater nach Armenien und lädt armenische Militärs zu Fortbildungszwecken und für Manöver nach Deutschland ein.[16] Anfang 2010 entsandte die armenische Armee sogar Einheiten in den Afghanistan-Einsatz. Soldaten der Kaukasusrepublik flogen dafür zunächst nach Deutschland und wurden von dort aus an den Hindukusch gebracht. Dort waren sie unter deutschem Kommando im Einsatz.[17] An der ISAF-Folgemission „Resolute Support“ nehmen armenische Soldaten ebenso teil wie am NATO-Einsatz im Kosovo und an der Intervention in Mali.[18]
Mehr zum Thema: Die neue „Neue Ostpolitik“ (I).
[1] Karlen Aslanian: Huge Crowds Keep Up Pressure On Armenian PM. azatutyun.am 22.04.2018.
[2] ‚Armenia must withdraw from EaEU:‘ „Free Democrats“ campaign kicks off from Arabkir. aravot-en.am 10.03.2017. Free Democrats: Armenia should leave EAEU and buy gas from Iran. news.am 10.03.2017.
[3] Olya Azatyan/Nino Lejava: Armeniens Samtene Revolution. boell.de 25.04.2018.
[4] „Beeindruckend, wie verantwortungsvoll Politik mit den Hoffnungen der Bürger umgegangen ist“. auswaertiges-amt.de 29.06.2018.
[5] Seda Ghukasyan: Joint Russian-Armenian Military Force Won’t Intervene if Artsakh Attacked, Says Armenian Deputy Defense Minister. hetq.am 04.10.2017.
[6] Joshua Kucera: Armenia Debates Leaving the Eurasian Union. eurasia.net 13.09.2017.
[7] Armenia elections: YELQ program taps army reform, EU association. panarmenian.net 06.03.2017.
[8] „Beeindruckend, wie verantwortungsvoll Politik mit den Hoffnungen der Bürger umgegangen ist“. auswaertiges-amt.de 29.06.2018.
[9] Grigor Atanesian/Bradley Jardine/Joshua Kucera: After 100 days, what’s new in the „new Armenia“? eurasianet.org 17.08.2018.
[10] Joshua Kucera: Pashinyan and Putin hold first meeting, pledge to build closer ties. eurasianet.org 14.05.2018.
[11] Bradley Jardine: Armenia hopes to benefit from new Iran-Eurasian Union free trade deal. eurasianet.org 18.05.2018.
[12] Ian Bremmer/Cory Welt: A break with the past? State and economy in post-communist Armenia, in: Helsinki Monitor, Jg. 8 (1997), Nr. 1, S. 38–47.
[13] Richard Giragosian: The Armenian Imperative: Confronting and Containing Oligarchs, in: Mehran Kamrava (Hg.): The Great Game in West Asia: Iran, Turkey and the South Caucasus, London 2017, S. 205–228 (hier: S. 217).
[14] Günter Pilarsky: Wirtschaft am Rohstofftropf: Der Kampf um die wichtigsten mineralischen Ressourcen, Wiesbaden 2014, S. 110.
[15] Ebenda, S. 111.
[16] Unterstützung für armenische Streitkräfte, sanitaetsdienst-bundeswehr.de 04.12.2008; Armenische Soldaten trainieren in Germersheim. luftwaffe.de 17.03.2015.
[17] Armenien verstärkt ISAF-Truppe um 40 Mann. de.sputniknews.com 09.01.2010.
[18] Armenian peacekeeping forces might expand int’l involvement. armenpress.am 23.05.2017.
Erschienen auf german-foreign-policy.com, 07.09.2018.
Artikel bei GFP erscheinen im Rahmen einer Redaktionsarbeit und sind nicht als Autorenartikel zu sehen.