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David X. Noack

Kritische Perspektiven auf Geschichte und internationale Politik

„De-facto-Staat“ Ostukraine

Deutsche Militärkreise debattieren über eine erneute Osterweiterung der NATO und über eine Spaltung der Ukraine. Wie ein früherer Mitarbeiter des Amtes für Studien und Übungen der Bundeswehr schreibt, sei die Ausdehnung des westlichen Kriegsbündnisses auf ukrainisches Territorium weiterhin im Gespräch. Komme es tatsächlich zu einem solchen Schritt, dann „träte wahrscheinlich nur die Westukraine“ der NATO bei. „Die Ostukraine“ werde „in diesem Fall unabhängig oder ein De-facto-Staat wie Abchasien.“ Der Autor, ein Oberstleutnant der Reserve, stellt seine Überlegungen in einer militärischen Fachpublikation vor und bettet sie ein in einen Rückblick auf alle NATO-Osterweiterungen der vergangenen 20 Jahre. Demnach ist der „Cordon Sanitaire“ zwischen dem Kriegsbündnis und Russland, den die Alliierten des Zweiten Weltkriegs der Sowjetunion zugestanden hatten, inzwischen weitgehend von der NATO absorbiert worden; dabei habe man alle „roten Linien“ Moskaus überschritten. Wie der Autor urteilt, befinde sich Russland in einer historischen Defensive. Allein das schon 1989 ins Auge gefasste Vorhaben Moskaus, sich durch eine Achse mit Berlin abzusichern, hat demnach Aussicht auf Erfolg.

Cordon Sanitaire

Der Autor der kürzlich in der Österreichischen Militärischen Zeitschrift erschienenen Analyse [1], Heinz Brill, beginnt seine Erwägungen mit einem Rückblick auf die erste Osterweiterung der NATO im Jahr 1990. Wie Brill, lange Jahre als Wissenschaftlicher Direktor im Zentralen Forschungs- und Studienbereich des Amtes für Studien und Übungen der Bundeswehr tätig, in Erinnerung ruft, hatte die Sowjetunion 1990 der Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik nur unter der Voraussetzung zugestimmt, dass die fünf neuen Bundesländer nicht von der NATO genutzt werden. „Unsere Position war auf lange Dauer angelegt“, ist in den Erinnerungen des damaligen sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow zu lesen. Die Länder zwischen dem erweiterten Deutschland und Russland sollten als „Cordon Sanitaire“, als Sicherheitszone zwischen Russland und dem Westen neutral bleiben.[2] Die territoriale Erweiterung der NATO um die DDR schien Moskau tragbar – laut Brill in Verbindung mit einer „strategische(n) Position, welche die feste und unumkehrbare Zusammenarbeit der Sowjetunion und Deutschlands vorsah“.

Ausdehnung nach Osten

Brill beschreibt, wie der Westen unter Bruch der Absprachen von 1990 die NATO Schritt für Schritt nach Osten ausdehnte. Mit der zweiten NATO-Ostweiterung im Jahr 1999 (Tschechische Republik, Ungarn, Polen) sowie mit der dritten Expansion im Jahr 2004 (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien) schmolz der osteuropäische „Cordon Sanitaire“ nahezu vollständig dahin. Seitdem habe die „Sicherung des verbliebenen bzw. neuen osteuropäischen ‚Cordon Sanitaire'“ (Belarus, Russlands Exklave Kaliningrad, Ukraine und „einige Kaukasusrepubliken“) für Moskau „absolute Priorität“, urteilt Brill: Schließlich seien spätestens mit der NATO-Ausdehnung von 2004 „Ostsee und Schwarzes Meer zu Seeräumen der NATO“ sowie „alle ‚roten Linien‘ (…) vom Westen überschritten“ worden. Alles in allem sei „eine Wende der fast 300-jährigen Politik der Ausdehnung (Russlands, d.Red.) nach Westen und Süden“ erzwungen worden, „die seit Peter dem Großen zu den Grundlagen russischer Staatsdoktrin gehörte“.

Made in Germany

Brill schreibt den ersten Anstoß zur NATO-Osterweiterung Deutschland zu. Der damalige Bonner Verteidigungsminister Volker Rühe habe im März 1993 als erster öffentlich erklärt, das Kriegsbündnis auf mehrere Staaten Osteuropas ausdehnen zu wollen, berichtet Brill. Damals habe Washington höchst skeptisch auf die deutschen Vorschläge reagiert; die Osterweiterung sei Politik „Made in Germany“ gewesen. Die USA hätten ihre Strategie jedoch im Laufe der folgenden Jahre angepasst. Heute sei eine stets weiterrückende NATO-Osterweiterung „für die USA (…) Teil ihrer Globalstrategie im Kampf um Eurasien“, konstatiert der Oberstleutnant der Reserve. Dies wiederum führe zu Differenzen mit Berlin. Die Meinungsverschiedenheiten seien auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 erstmals offen zutage getreten, erklärt Brill: Die USA hatten sich für eine Osterweiterung um die Ukraine und Georgien stark gemacht, scheiterten aber an Deutschland. Berlin glaubt, inzwischen durch eine Mittlerrolle zwischen Moskau und Washington mehr Einfluss gewinnen zu können, eine Einschätzung, die sich im russisch-georgischen Krieg vom August 2008 bestätigt zu haben scheint. Brill stuft diesen Krieg als „Testfall“ für das Aufeinanderprallen zweier Einflusssphären ein: Moskau habe bewiesen, dass es nicht jede Überschreitung einer „roten Linie“ hinnehme.

Wie Abchasien

Brill vergleicht die Auseinandersetzungen zwischen Russland und dem Westen offen mit dem „Great Game“ zwischen Großbritannien und Russland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Heute gehe es dabei vor allem „um die Ölfelder im kaspischen Raum und um sichere Transportwege“. Die Auseinandersetzungen sind mit dem Krieg im August 2008 jedoch längst nicht beendet. Brill zufolge ist ein NATO-Beitritt der Ukraine nach wie vor im Gespräch. Es träte allerdings „wahrscheinlich nur die Westukraine bei“, erklärt der ehemalige Bundeswehr-Experte und bringt damit eine mögliche Spaltung der Ukraine ins Spiel. Weiter führt er aus: „Die Ostukraine würde in diesem Fall unabhängig oder ein De-facto-Staat wie Abchasien“. Die Österreichische Militärische Zeitschrift stützt dieses Denkmodell durch den Abdruck einer Karte, die eine „mögliche Ost-West-Spaltung der Ukraine im Fall eines NATO-Beitritts“ zeigt. Dabei weicht die Karte von gebräuchlichen Darstellungen ab, die die Grenze zwischen dem russischsprachigen Osten und dem ukrainischsprachigen Westen des Landes ziehen. Auf solchen Darstellungen werden die Oblasten Kirowohrad, Mykolajiw und Odessa in die russische Einflusssphäre gerechnet. Brill jedoch beansprucht für den Westen sämtliche Territorien bis zum Dnepr – inklusive der wichtigen Ölhäfen Odessa und Cherson.

Ölhäfen

Tatsächlich bildet Odessa mit seinem Hafen einen Teil des sogenannten Euro-Asiatischen Transportkorridors, den die EU zum Abtransport von Erdöl aus dem Kaspischen Becken nach Westen nutzen will. Ebenfalls westlich des Dnepr – und damit innerhalb von Brills „Westukraine“ – liegen Cherson und Juschny. Juschny hat einen Ölhafen, der genutzt wird, um georgisches Öl unter Umgehung Russlands über das Schwarze Meer nach Westeuropa zu verbringen. Cherson besitzt ebenfalls einen Ölhafen und hat eine direkte Anbindung an die Pipeline Odessa-Brody, die Öl vom Schwarzen Meer bis an die polnische Grenze führt. Wird die Ukraine nach Brills Modell entlang des Dnepr geteilt, dann geraten sämtliche wichtigen Ölhäfen und die bedeutendsten Pipeline-Routen des osteuropäischen Staates unter westliche Kontrolle – ein Aspekt, der ein exemplarisches Schlaglicht auf den materiellen Hintergrund staatlicher Separationspläne wirft.

[1] Zitate hier und im Folgenden aus: Heinz Brill: Die NATO-Osterweiterung und der Streit um Einflusssphären in Europa; Österreichische Militärische Zeitschrift 5/2009
[2] Als Cordon sanitaire wird eine Sicherheitszone von Ländern zwischen verfeindeten Staaten oder Blöcken bezeichnet.

german-foreign-policy.com, 01. Dezember 2009

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