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David X. Noack

Kritische Perspektiven auf Geschichte und internationale Politik

Bulgarien: Armenhaus sucht Regierung

In Bulgarien finden am Sonntag die siebten Parlamentswahlen innerhalb von dreieinhalb Jahren statt

In Bulgarien geht die Wahl-Dauerschleife in die nächste Runde. Wenn die Bulgar*innen am Sonntag zu den sechsten vorgezogenen Neuwahlen seit 2021 schreiten, wird zwar wahrscheinlich die Partei des rechtskonservativen Politikers Bojko Borissow stärkste Kraft, doch das sagt noch nichts über die nächste Regierung aus. Borissow hatte vor zwei Jahrzehnten mithilfe von CDU und CSU die Partei Gerb aufgebaut, deren Programm teilweise eine Übersetzung des CSU-Programms ist.

Während Angela Merkel Kanzlerin war, agierte Bulgarien unter Premierminister Borissow lange Jahre als enger außenpolitischer Verbündeter der Bundesrepublik. »In der Griechenlandkrise stand das bulgarische politische Establishment treu an der Seite Deutschlands – und nicht auf der Seite des Nachbarlandes Griechenland«, so Ognian Kassabow vom linken Kollektiv KOI. Deutschland ist sowohl der größte Import- als auch Exportpartner Bulgariens.

Während die Gerb-Regierungen sich international an der BRD orientierten, gab es im Innern kaum eine Perspektive für eine wirtschaftliche Modernisierung am Rand der Europäischen Union. Bulgarien war mit Beitritt zur EU im Jahr 2007 das ärmste Land des Staatenblocks und bleibt es bis heute. Unter Borissow florierte hingegen die Korruption, was 2021 letztendlich zu seiner Abwahl führte.

Die Neuwahlen im November 2021 gewann dann zum ersten Mal das Parteienbündnis »Wir setzen den Wandel fort« (PP) von Kiril Petkow. Dieser hatte den Großteil seines Berufslebens in Kanada gearbeitet und kam als weltgewandter Liberaler in seine Heimat zurück. Sein Parteienbündnis pflegte ein liberales, EU-freundliches und korruptionsfeindliches Image.

Das Experiment hielt jedoch nicht lang, bei Neuwahlen im Oktober 2022 landete PP wieder hinter Borissows Gerb. »Petkows Team war einfach nicht ausreichend vorbereitet«, sagt der Politikwissenschaftler Boris Popiwanow von der Universität Sofia. Bei den Wahlen im Juni lag PP noch bei knapp 14 Prozent und kann am Sonntag wohl mit einem ähnlichen Ergebnis rechnen.

Die Partei der türkischen Minderheit DPS erhielt viele Jahre kontinuierlich um die zehn Prozent der abgegebenen Stimmen bei Wahlen – in etwa der relative Anteil dieser Minorität in Bulgarien. Zum aktuellen Urnengang hat sich die Partei indes gespalten in die APS des einflussreichen Oligarchen Ahmed Dogan und die DPS-Neuanfang des Medienoligarchen Deljan Pejewski. »Das gesamte Parteiensystem kollabiert gerade«, so Kassabow von KOI gegenüber dem »nd«. Durch ihre Kontrolle von Gerichten und anderen staatlichen Strukturen auf der lokalen Ebene führen Dogan und Pejewski einen erbitterten Streit. Offen ist, welche der beiden Parteien die Vier-Prozent-Hürde am Sonntag überschreiten kann.

Zur Parlamentswahl diesen Sonntag tritt das erste Mal die Sozialdemokratie als Teil des Bündnisses »BSP – Vereinigte Linke« an. Die Bulgarische Sozialistische Partei war in den 1990er Jahren eine Ausnahmeerscheinung in den Ländern des vormaligen Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Die einstige kommunistische Partei nannte sich 1990 um, gewann die ersten Wahlen nach Ende des Realsozialismus und regierte bis 1997 weiter. Die neoliberale Schocktherapie kam zwar Ende der 1990er Jahre verzögert in die Länder der Region, traf aber Bulgarien besonders hart.

Gewendet zur Pro-EU-, Pro-Nato- und wirtschaftsfreundlichen Partei prägte die BSP die bulgarische Politik der vergangenen beiden Jahrzehnte als eine der beiden großen Parteien. Mit der Kaskade an Neuwahlen seit 2021 und innerparteilichen Streitereien sanken die BSP-Ergebnisse von 27 auf nur noch sieben Prozent beim jüngsten Urnengang. Unter der Altchefin Kornelija Ninowa entstand das Konzept eines »konservativen Sozialismus«. »Das schreckte viele klassische sozialdemokratische Wähler*innen ab«, so Popiwanow.

»Außerdem befand sie sich in einem offenen Konflikt mit der Partei der europäischen Sozialdemokratie PES«, ergänzt der Politikwissenschaftler gegenüber dem »nd«. Die neue BSP-Führung versucht die Wiederannäherung an die PES, konnte aber kein neues Konzept entwickeln. Dem BSP-Bündnis hat sich auch die marginale Kommunistische Partei angeschlossen.

Zweitstärkste Kraft könnte die rechte Partei Wasraschdane (Wiedergeburt) werden. Dieser gelang es über die vergangenen Jahre, der WMRO in der rechten Ecke den Rang abzulaufen, da Wasraschdane die bulgarische Mitgliedschaft in EU und Nato ablehnt und die Ukraine im Krieg gegen Russland nicht unterstützen will. Bulgarien sendet wie viele andere EU- und Nato-Staaten Waffen in die Ukraine, doch Bulgarien ist mit der Slowakei das Nato-Land, in dem die Mitgliedschaft in dem Militärpakt am unbeliebtesten ist. »Wasraschdane ist vor allem eine opportunistische Anti-Establishment-Partei, aber noch nicht offen faschistisch«, so Popiwanow. Im Europaparlament sitzt Wasraschdane mit der AfD in einer Fraktion.

»Niemand geht davon aus, dass das jetzt vorerst die letzten Wahlen sein werden« erklärt der Politikwissenschaftler gegenüber dem »nd«. »Vielleicht gründet Präsident Rumen Radew demnächst noch ein eigenes Bündnis und mischt das Parteiensystem noch einmal auf«, ergänzt er. Auf den Straßen Sofias sieht man kaum Wahlplakate. Das hat laut Popiwanow einen handfesten Grund: »Die Parteien haben kein Geld mehr nach sechs Wahlkampagnen – und sie sparen für den nächsten Urnengang.«

Erschienen auf nd-aktuell.de, 25.10.2024.

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