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David X. Noack

Kritische Perspektiven auf Geschichte und internationale Politik

Zwischen den Stühlen (II)

Berlin bemüht sich, den Versuch der Regierung Armeniens, sich aus den traditionell engen Bindungen an Russland zu lösen, zur Stärkung deutscher Positionen zu nutzen. Die Rivalität erstreckt sich auf Energiepolitik, Militär und Geheimdienste.

Die Bundesregierung sucht die Bemühungen der Regierung Armeniens, die jahrzehntelange Allianz des Landes mit Russland zu lockern, zur Stärkung der deutschen Positionen in der Kaukasusrepublik zu nutzen. So stockt Berlin den deutschen Anteil an der European Union Mission in Armenia (EUMA), einem Polizeieinsatz an der Grenze zu Aserbaidschan, auf. Dabei bleibt die Bundesregierung, während etwa Frankreich sich energisch für eine Annäherung Armeniens an die EU einsetzt, noch relativ zurückhaltend: Die deutsche Allianz mit Aserbaidschan und der Türkei – zwei autoritär regierten Staaten, die sich schon seit Jahrzehnten in einem erbitterten Konflikt mit Armenien befinden – steht einem stärkeren deutschen Einsatz für eine unmittelbare Anbindung des Landes an die EU entgegen. Der Machtkampf zwischen dem Westen und Russland vollzieht sich in Armenien auf den unterschiedlichsten Ebenen – von den Geheimdiensten bis zur Energiepolitik. Eriwan sucht zudem die russische Militärpräsenz im Land zu reduzieren. Experten urteilen allerdings, ein vollständiger Seitenwechsel sei für Armenien unrealistisch; es könne allenfalls um Diversifizierung gehen. Davon profitiert etwa auch Iran.

Alte und neue Kooperationspartner
Laut einer Umfrage des den US-Republikanern nahestehenden International Republican Institute (IRI) sieht in Armenien fast die Hälfte der Bevölkerung Frankreich als den wichtigsten Verbündeten in Fragen von Politik und Sicherheit an. Im Bereich der Wirtschaft wiederum gilt dem größten Teil der Bevölkerung Iran als bedeutendster Kooperationspartner.[1] Besonders deutlich zeigt die Umfrage den Ansehensverlust Russlands, eines langjährigen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Verbündeten Armeniens. Im Februar kündigte die armenische Regierung des neoliberalen Politikers Nikol Paschinjan an, die Mitgliedschaft in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) einzufrieren; im Juni folgte die Mitteilung, das Kaukasusland trete aus der OVKS aus.[2] Während Armeniens OVKS-Mitgliedschaft damit bald enden könnte, deutete der amtierende Außenminister an, sein Land könne den Beitritt zur EU anstreben.[3] In der deutschen Presse wurde das bejubelt: „Weg von Moskau, hin zu Brüssel“.[4]

Berlin laviert
Im Gegensatz zur französischen Regierung positioniert sich die Bundesregierung jedoch nicht offen für eine Annäherung Armeniens an die EU und andere westliche Organisationen. Viel zu wichtig scheinen ihr ihre Beziehungen zu den mit Eriwan verfeindeten Nachbarländern Aserbaidschan und Türkei. Trotzdem beteiligt sich die Bundesrepublik an der European Union Mission in Armenia (EUMA), einem Polizeieinsatz an der armenischen Grenze zu Aserbaidschan. Leiter der EUMA ist ein deutscher Bundespolizist – der frühere Präsident der Bundespolizeidirektion Stuttgart.[5] Im März dieses Jahres beschloss die Bundesregierung sogar, das deutsche EUMA-Kontingent aufzustocken.[6] Durch ihre langjährige Kooperation mit der Petrodiktatur Aserbaidschan und angesichts der – wenngleich langsamen – Öffnung Armeniens gegenüber Deutschland kann sich die Bundesregierung als Vermittlerin im Südkaukasuskonflikt positionieren: Im Frühjahr dieses Jahres fanden in der Villa Borsig in Berlin trilaterale Gespräche von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) mit Vertretern Armeniens und Aserbaidschans statt.[7]

Rohstoffe
Die Baerbocks Partei (Bündnis 90/Die Grünen) nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung analysiert in einer jüngst veröffentlichten Studie die aktuelle Situation des Bergbaus in Armenien. In der Untersuchung heißt es, die Kaukasusrepublik sei „reich an einer Vielzahl […] Ressourcen wie Eisen, Kupfer, Molybdän, Blei, Zink, Gold, Silber, Antimon und Aluminium sowie an darin enthaltenen seltenen und verstreuten Metallen wie Rhenium, Selen, Tellur, Cadmium, Indium, Helium, Thallium und Wismut“.[8] Über Jahrzehnte gehörte das in Südarmenien gelegene Sangesurer Kupfer- und Molybdänkombinat (ZCMC), der größte private Arbeitgeber und größte Steuerzahler des Landes, dem Karlsruher Unternehmen Cronimet.[9] Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) unterhält bis heute ein Memorandum of Understanding mit armenischen Partnern, auch wenn derzeit im Rahmen dieser Übereinkunft keine Aktivitäten stattfinden. Im Falle einer weiteren Annäherung Armeniens an die EU könnten deutsche Bergbaukonzerne auf langjährige Erfahrung und auf Kooperationsformate in Armenien setzen.

Militärische Rivalität
Mit der EUMA wiederum ist die EU zum ersten Mal sicherheitspolitisch direkt in Armenien involviert. Vor zwei Wochen hat außerdem der Europäische Rat erstmals eine Unterstützungsmaßnahme in Höhe von 10 Millionen Euro für die armenischen Streitkräfte beschlossen.[10] Allerdings ist Russland, der seit Jahrzehnten etablierte Kooperationspartner Armeniens, weiterhin mit Truppen in dem Land präsent. Laut einer Einschätzung aus dem Jahr 2021 waren damals rund 4.500 Soldaten der russischen Grenztruppen in Armenien stationiert.[11] Die Grenzsoldaten kontrollieren die Grenzen des Landes zur Türkei und zu Iran sowie Teile des Flughafens der Hauptstadt Eriwan. Im März dieses Jahres bat die armenische Regierung Moskau, die russischen Soldaten der Grenztruppen vom Flughafen Eriwan abzuziehen.[12] Im Mai stimmte die russische Regierung einem Abzug von Teilen der russischen Truppen aus dem Kaukasusland zu.[13] Allerdings bleibt die russische 102. Militärbasis im nordarmenischen Gjumri vorerst bestehen. Zwar erklärte Premierminister Paschinjan im Oktober 2023, er sehe „keinen Vorteil“ darin, dass die russischen Truppen dort blieben.[14] Der aktuelle Pachtvertrag sichert aber die russische Basis noch bis zum Jahr 2044 ab.[15]

Kurswechsel bei den Geheimdiensten
Dennoch arbeitet die Regierung von Premierminister Nikol Paschinjan langfristig daran, die engen Bindungen an Moskau in den Bereichen Polizei, Militär und Geheimdienste zu lockern. Im Jahr 2023 ließ der Regierungschef einen neuen Geheimdienst gründen, der die für das Ausland zuständige Abteilung des alten Geheimdienstes ersetzt. Die vormalige Ombudsfrau für Menschenrechte wurde die erste Chefin; sie ist die erste armenische Geheimdienstchefin ohne Verbindung nach Russland.[16]

Energiekonkurrenz
Auch im Bereich Energie arbeitet die aktuelle armenische Regierung daran, die Verbindung nach Moskau zu minimieren. Derzeit laufen Verhandlungen mit US-Repräsentanten über den Bau neuer Nuklearreaktoren in der Kaukasusrepublik.[17] Die bisher wichtigste Stromquelle ist das Kernkraftwerk Mezamor, das einzige Kernkraftwerk der gesamten Kaukasusregion. Es wird derzeit mit russischer Hilfe betrieben und deckt rund ein Drittel des armenischen Strombedarfs ab. Erst im Dezember vergangenen Jahres unterzeichneten Vertreter Armeniens und Russlands einen Vertrag, dem zufolge das Kernkraftwerk Mezamor modernisiert und bis 2036 am Netz gehalten werden soll.[18] Berlin und Brüssel kooperieren auf anderem Wege: Mit westlicher Hilfe soll die Kaukasusrepublik unter anderem mit einem Unterwasserstromkabel durch das Schwarze Meer an die EU angeschlossen und so aus der Abhängigkeit von Russland gelöst werden.[19]

Manöver
Ein vergleichbares Bild ergibt sich auf militärischem Feld. Ende Juli übte eine relativ kleine Truppe armenischer und US-amerikanischer Soldaten im Rahmen des binationalen Manövers „Eagle Partner“ die gemeinsame Teilnahme an Peacekeeping- und Stabilisierungseinsätzen.[20] Eine Zusammenarbeit Armeniens mit westlichen Militärs ist nicht neu: Im Rahmen der NATO-Einsätze KFOR und ISAF dienten bzw. dienen armenische Soldaten unter deutschem Kommando. Darüber hinaus waren Soldaten aus dem Kaukasusland nach dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak unter polnischem Kommando dort stationiert.

Andere Mächte
Nachdem EU-Polizisten, darunter auch deutsche, im Rahmen der EUMA in der Kaukasusrepublik stationiert wurden, traf der kürzlich verstorbene iranische Präsident Ebrahim Raisi in Teheran den armenischen Premierminister Paschinjan und sprach sich gegen die „Anwesenheit von Kräften von außerhalb“ in der Region aus.[21] Mit einer Schwächung des russischen Einflusses in dem Land muss nicht zwangsläufig eine Stärkung westlichen Einflusses einher gehen: Neben dem traditionellen Einfluss Irans wuchs im vergangenen Jahrzehnt auch der Einfluss der Volksrepublik China in dem Kaukasusland.[22] Zudem ist Indien vermehrt in Armenien präsent.[23]

„Diversifizieren, nicht ersetzen“
Auch wenn die aktuelle armenische Regierung derzeit versucht, die Abhängigkeit von Russland zu reduzieren und die Beziehungen mit einer Reihe westlicher Länder – darunter Deutschland – auszubauen, scheint ein eindeutiger Wechsel der Blöcke derzeit unrealistisch zu sein. „Ein Land wie Armenien kann keine Sicherheitsarchitektur ohne Alternativen aufgeben. Und solche Alternativen existieren einfach nicht“, urteilte jüngst Arman Grigorjan, ein früherer Berater des ersten armenischen Präsidenten Lewon Ter-Petrosjan (im Amt von 1991 bis 1998).[24] Ein armenischer Experte wurde kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit der Einschätzung zitiert, es gehe der armenischen Regierung nicht darum, „Russland zu ersetzen“, sondern lediglich darum, seine Außenbeziehungen zu diversifizieren.[25]

[1] Public Opinion Survey: Residents of Armenia | December 2023. iri.org 11.03.2024.
[2] Armenien will von Russland geführtes Militärbündnis verlassen. berliner-zeitung.de 12.06.2024.
[3] Armenien erwägt Beitritt zur EU. deutschlandfunk.de 13.03.2024.
[4] Friedrich Schmidt: Weg von Moskau, hin zu Brüssel. faz.net 18.03.2024.
[5] Dr. Markus Ritter, Head of Mission of the European Union Mission in Armenia. eeas.eu 17.02.2023.
[6] Mehr Polizistinnen und Polizisten für EU-Mission in Armenien. bundesregierung.de 27.03.2024.
[7] Erklärungen des Auswärtigen Amts in der Regierungspressekonferenz vom 01.03.2024. auswaertiges-amt.de 01.03.2024.
[8] Artur Grigoryan/Tehmineh Yenoqyan: Critical raw materials in Armenia, in: The Raw Materials Situation in Neighboring European Countries: Bosnia and Herzegovina, Serbia, Georgia, Armenia, E-Paper der Heinrich-Böll-Stiftung, Juli 2024.
[9] S. dazu Die neue „Neue Ostpolitik“ (II).
[10] Europäische Friedensfazilität: Rat nimmt erstmals Unterstützungsmaßnahme zugunsten der armenischen Streitkräfte an. consilium.europa.eu 22.07.2024.
[11] Hovhannes Nazaretyan: Russia’s Increasing Military Presence in Armenia. evnreport.com 04.03.2021.
[12] Armenia Officially Asks Moscow To Remove Russian Border Troops From Yerevan Airport. rferl.org 06.03.2024.
[13] Putin stimmt Teilabzug russischer Truppen aus Armenien zu. sueddeutsche.de 09.05.2024.
[14] Armenia sees no advantage in keeping Russian military bases – PM to WSJ. reuters.com 25.10.2023.
[15] Joshua Kucera: The Russian Military Base In Armenia At The Eye Of A Geopolitical Storm. rferl.org 24.03.2024.
[16] Thomas de Waal: Armenia Navigates a Path Away From Russia. carnegieendowment.org 11.07.2024.
[17] Onnik James Krikorian: Armenia Looks West to Reduce Nuclear Energy Dependency on Russia. jamestown.org 22.07.2024.
[18] Lilit Shahverdyan: Russia to revamp Armenia’s nuclear power plant. eurasianet.org 21.12.2023.
[19] Thomas de Waal: Armenia Navigates a Path Away From Russia. carnegieendowment.org 11.07.2024.
[20] Ani Avetisyan: Russia rages over US military exercise in Armenia. eurasianet.org 19.07.2024.
[21] Vali Kaleji: Iran’s Paradoxical Expectations for Political Developments in Armenia. jamestown.org 17.07.2024.
[22] Gayane Asryan: Soft power: China’s spheres of influence in Armenia. Analysis and human stories. jam-news.net 25.02.2024.
[23] S. dazu Zwischen den Stühlen.
[24] Thomas de Waal: Armenia Navigates a Path Away From Russia. carnegieendowment.org 11.07.2024.
[25] Friedrich Schmidt: Kreml warnt Armenien vor „ukrainischem Weg“. faz.net 25.07.2024.

Erschienen auf german-foreign-policy.com, 05.08.2024.
Artikel bei GFP erscheinen im Rahmen einer Redaktionsarbeit und sind nicht als Autorenartikel zu sehen.

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