Rezension: Die Kriegsverbrecherlobby
Felix Bohr untersucht „Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter“.
Felix Bohr hat seine Dissertation mehr oder weniger chronologisch strukturiert, behandelt aber, der Übersichtlichkeit halber, einzelne Themenkomplexe konzentriert in einzelnen Unterkapiteln. Im ersten Teil stellt der Autor Herbert Kappler und die „Vier von Breda“ vor und beschreibt ihre Verbrechen im Verlauf des Zweiten Weltkriegs sowie die Erinnerung an sie in der Nachkriegszeit. Im zweiten Teil widmet sich Bohr der Entstehung einer Lobby in den westlichen Besatzungszonen und in der frühen Bundesrepublik, die sowohl Repräsentanten der Kirchen, Politiker und diverse spezielle Organisationen einschloss. Im dritten Teil des Buches wendet sich Bohr dem Übergang von der offenen hin zur eher verdeckten diplomatischen Hilfe der verschiedenen Bundesregierungen bis zum Ende der Großen Koalition im Jahr 1969 zu. Am Ende dieser Phase wurde Willy Lages aus der Haft in Breda entlassen. Der vierte Teil wiederum thematisiert die Kriegsverbrecherphase in der Zeit der SPD-FDP-Koalitionen von 1969 bis 1982. In diese Phase fallen unter anderem die Flucht Kapplers und der Tod Kotallas in Haft. Im fünften und finalen Teil stehen die Bemühungen zur Freilassung der übriggebliebenen „Zwei von Breda“ im Fokus.
Für seine Dissertation wertete Bohr unveröffentlichte Akten des Auswärtigen Amtes, des Bundesarchivs, des Bundesnachrichtendienstes, des Verfassungsschutzes und des Evangelischen Zentralarchivs aus und nutzte verschiedene deutsche Partei- und Privatarchive sowie italienische und niederländische Dokumente. Die Quellenakquise ist für eine Doktorarbeit sehr gut. Basierend auf all diesen Akten, veröffentlichten Quellen und Presseerzeugnissen hat der Autor dieses bis zur Veröffentlichung des Buches nur in Teilen bekannte Kapitel detailgetreu nachgezeichnet. Das Werk beschränkt sich nicht auf die Rechtsgeschichte, sondern stellt die politischen Debatten um die deutschen Kriegs- und NS-Verbrecher in den Kontext der verschiedenen Erinnerungspolitiken Deutschlands, Italiens und der Niederlande sowie in einen Zusammenhang mit den Beziehungen der drei NATO-Länder untereinander. Im Falle Deutschlands geht es in dem Buch hauptsächlich um Westdeutschland, wobei die DDR auch immer wieder eine Rolle spielte. So stieg in der Bonner Republik Ende der 1950er Jahre der Druck, NS-Verbrecher zu verfolgen. Aus Ostdeutschland kam publizistische Unterstützung im Zuge der „Blutrichter-Kampagne“. 1958 nahm dann die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg ihre Arbeit auf.
Teilweise lässt sich Bohrs Umgang mit den Quellen kritisieren. So kann beispielsweise für die Behauptung, der österreichische Bischof Alois Hudal habe Prozessakten von Herbert Kappler „genau“ studiert, kein Selbstzeugnis von Hudal herangezogen werden. Darüber hinaus ist das Buch teilweise äußerst blumig geschrieben – eher untypisch für ein wissenschaftliches Werk, ebenso die Bebilderung der Publikation. Jedoch gleitet Bohr nicht ins Populärwissenschaftliche ab, und die Fotos stören weder den Lesefluss, noch sind es zu viele. Dem Werk ist ein Personen-, aber leider weder ein Orts- noch ein Sachregister angehängt.
Das 2018 im Suhrkamp Verlag erschienene Buch ist – trotz des belastenden Themas – insgesamt recht einfach und flott lesbar. Der Autor, seit 2018 Redakteur im Ressort Deutschland und politischer Korrespondent in Baden-Württemberg des Wochenmagazins Der Spiegel, hat damit die Aufmerksamkeit auf ein immer noch zu wenig erforschtes Thema gelenkt.
Felix Bohr: Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter, Berlin 2018 (Suhrkamp Verlag), 558 Seiten, 28 Euro (elektronisch 23,99 €). ISBN: 978-3518428405.
Erschienen auf german-foreign-policy.com, 08.08.2023.
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