Die andere Staatsräson
Die Bundesrepublik macht sich für die Verfolgung von Kriegsverbrechen in aller Welt stark – während sie jahrzehntelang für Strafbefreiung für deutsche Kriegsverbrecher im Ausland kämpfte.
Während die Bundesrepublik sich als Vorkämpferin gegen Kriegsverbrechen in aller Welt inszeniert, hat sie sich jahrzehntelang für Strafbefreiung für deutsche Kriegsverbrecher im Zweiten Weltkrieg stark gemacht. Dies belegen geschichtswissenschaftliche Untersuchungen im Detail. Erst vor wenigen Tagen ist in Bremen ein Syrer festgenommen worden, dem vorgeworfen wird, als Anführer einer Miliz Menschen gefoltert und misshandelt zu haben. Berlin dringt zudem darauf, angebliche oder tatsächliche russische Kriegsverbrechen im Ukraine-Krieg strafrechtlich zu ahnden. Ganz im Gegensatz dazu setzten sich sämtliche Regierungen der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1989 konsequent für die Freilassung deutscher Kriegs- und anderer NS-Verbrecher im westlichen Ausland ein. Der Historiker Felix Bohr zeichnet dies in seinem Buch „Die Kriegsverbrecherlobby: Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter“ am Beispiel deutscher Kriegsverbrecher in Italien und in den Niederlanden nach. Der staatliche Einsatz für Kriegs- und NS-Verbrecher wurde demnach von allen größeren Parteien im Deutschen Bundestag mitgetragen und gehörte „bis 1989 zur bundesdeutschen Staatsräson“.
Kirchliche Vertretung
Nach der Befreiung vom Faschismus im Mai 1945 zerschlugen die Alliierten die deutschen Staatsstrukturen. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa übernahmen daraufhin zunächst „Bischöfe und Pfarrer […] quasistaatliche Hilfsfunktionen“.[1] In diesem Rahmen bemühten sie sich unter anderem darum, die wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschheit verurteilten Deutschen in Ost- und Westeuropa sowie in den verschiedenen Besatzungszonen Deutschlands und Österreichs zu betreuen. Nach den beispiellosen Verbrechen des deutschen Faschismus hatten die Siegermächte rund 97.000 Deutsche und Österreicher verurteilt.[2]
„Klosterlinie“
Sowohl evangelische als auch katholische Geistliche setzten sich ab Kriegsende für gesuchte und verurteilte Kriegsverbrecher ein. Auf katholischer Seite am bekanntesten dürfte die „Rattenlinie“ oder „Klosterlinie“ sein. Über sie konnten NS-Kriegsverbrecher aus Deutschland über Italien nach Lateinamerika ausreisen. Vatikanische Stellen halfen dabei; auch der US-Armeegeheimdienst Counter Intelligence Corps (CIC) wusste zumindest teilweise Bescheid. So beispielsweise geschehen im Falle von Klaus Barbie, dem so genannten „Schlächter von Lyon“.[3] Der Vatikan unter Papst Pius XII. (im Amt von 1939 bis 1958) hatte das Versailler Staatensystem abgelehnt, kroatische Klerikalfaschisten unterstützt und stand Nazideutschland im Verlauf des Zweiten Weltkriegs sehr nahe, auch wenn der Vatikan offiziell Neutralität wahrte.[4] Beide großen westdeutschen Kirchen setzten sich über Jahrzehnte für die Freilassung deutscher Kriegs- und anderer NS-Verbrecher ein.[5]
Ende der Aufklärungen
Von November 1945 bis zum Oktober 1946 fanden die Prozesse des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals statt. Ankläger der vier Siegermächte in Europa (Frankreich, Großbritannien, USA, Sowjetunion) prozessierten dabei gegen 22 führende Vertreter des NS-Regimes, darunter der ehemalige Außenminister Joachim von Ribbentrop, der einstige „Stellvertreter des Führers“ Rudolf Heß und Hermann Göring, der zur Nazizeit sowohl Luftwaffenoberbefehlshaber als auch Wirtschaftsminister gewesen war. Nach dem Ende der Nürnberger Prozesse sank die Motivation seitens führender Vertreter der westlichen Besatzungsbehörden, deutsche Verbrecher zu verfolgen. Ab dem Jahr 1947 lieferten die US-Besatzungsbehörden in Deutschland keine deutschen Täter aus ihrer Besatzungszone nach Italien aus; ein Jahr darauf schlossen sich die britischen Besatzungsbehörden dem an.[6]
Verurteilt in Italien
In Italien wiederum, bis 1943 ein faschistischer Verbündeter Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und danach für zwei Jahre faktisch zweigeteilt zwischen den Alliierten und den Achsenmächten, dauerten die Verurteilungen deutscher Kriegs- und NS-Verbrecher an. 1948 verurteilte ein Militärgericht Herbert Kappler zu lebenslanger Haft. Beim Massaker in den Ardeatinischen Höhlen hatten am 24. März 1944 deutsche Soldaten insgesamt 335 italienische Zivilisten, davon 75 jüdische Geiseln, erschossen. Das Kriegsverbrechen organisierte Kappler, der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD) in Rom. Die Ardeatinischen Höhlen gelten bis in die Gegenwart als „der Symbolort für deutsche Kriegsverbrechen in Italien“ schlechthin. Jedes Jahr legt der italienische Staatspräsident dort einen Kranz nieder.[7]
Verurteilt in den Niederlanden
Neben Kappler stehen im Zentrum von Bohrs Buch die in den Niederlanden verurteilten NS-Verbrecher der „Vier von Breda“. Bei diesen handelte es sich um Willy Lages (Leiter des Sicherheitsdienstes in Amsterdam und somit Vorgesetzter des Leiters der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Amsterdam), Jupp Kotalla (Leiter der Verwaltung im Kamp Amersfoort), Ferdinand aus der Fünten (Leiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Amsterdam) und den vormaligen SS-Sturmscharführer Franz Fischer. Alle waren maßgeblich an der Deportation niederländischer Juden beteiligt. Lages, Fischer und aus der Fünten waren für mehr Opfer verantwortlich als die meisten anderen deutschen NS- und Kriegsverbrecher in den Niederlanden.[8]
„Rechtsschutz“ in der Bundesrepublik
Im Dezember 1949, also ein halbes Jahr nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, stimmte der Bundestag einstimmig für die Einrichtung einer „Zentralen Rechtsschutzstelle“ (ZRS). Leiter der ZRS wurde der Jurist Hans Gawlik, der in Nürnberg als Verteidiger des SDs gearbeitet hatte.[9] Gawlik nutzte sein Amt, um 800 deutsche NS-Täter davor zu warnen, nach Frankreich auszureisen, da sie dort in Abwesenheit verurteilt waren und ihnen Haftstrafen drohten.[10] Binnen kürzester Zeit setzte sich im westdeutschen Regierungsapparat der Begriff „Kriegsverurteilte“ durch, der die Kriegs- und anderen NS-Verbrecher darauf reduzierte, dass sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den befreiten Ländern verurteilt wurden; ihre Kriegsverbrechen und ihr Beitrag zum Holocaust wurden mit dem Begriff heruntergespielt.
Gemeinsame Blockbildung
Die Blockbildung im Zuge der Systemkonfrontation verkomplizierte für die Bonner Regierung das Auftreten gegenüber Italien und den Niederlanden. Beide Staaten gehörten ab 1949 zur NATO, der 1955 auch die Bundesrepublik beitrat. Die Bundesregierung unter Kanzler Konrad Adenauer und die italienische Regierung unter dem christdemokratischen Ministerpräsidenten Alcide De Gasperi einigten sich 1950 darauf, die Westintegration und die Wiederbewaffnung des jeweils anderen Staates zu unterstützen. Darüber hinaus verkürzte die italienische Regierung die Haftzeit vieler deutscher Kriegs- und NS-Verbrecher. Ab 1951 war nur noch Kappler in Haft; vor allem italienische Partisanenverbände und die jüdische Gemeinde des Landes stemmten sich vehement gegen seine Freilassung.[11]
Hilfsorganisationen
In der Bundesrepublik entstand eine Szene von Organisationen, die sich für die Freilassung der verurteilen Kriegs- und NS-Verbrecher einsetzte. Der bedeutendste Verband war der „Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen Deutschlands“ (VdH). Im Jahr 1959 hielt der VdH seinen Bundeskonvent in Köln-Deutz ab. Die Eröffnungsrede hielt Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) vor rund 11.000 Zuhörern.[12] Neben dem VdH gab es auch noch die „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“, als deren Ehrenpräsident der Arzt, Theologe und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer fungierte. Die „Stille Hilfe“ diente vor allem als Sammelbecken für ehemalige hochrangige SS-Männer.[13] In der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ (Hiag) wiederum sammelten sich ausschließlich „Veteranen der Waffen-SS“.[14]
Faschistische Unterstützer vor Ort
Nicht nur aus der Bundesrepublik, sondern auch aus den einst von Deutschland besetzten Ländern gab es Unterstützung für verurteilte Kriegsverbrecher. Im Februar 1956 rief Pino Romualdi, einer der frühen führenden Köpfe des faschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI), den damaligen Ministerpräsidenten De Gasperi auf, die letzten „kriegsgefangenen deutschen Soldaten“, womit Romualdi sowohl Kappler als auch den ebenso verurteilten Österreicher Walter Reder meinte, freizulassen.[15] An einem Kongress der „Stillen Hilfe“ in München im Jahr 1955 nahm unter anderem eine Angehörige eines ehemaligen Kollaborateurs und Mitglieds der niederländischen National-Socialistische Beweging teil und beschwerte sich über angebliches „Unrecht“, das die verurteilten NS-Verbrecher in Breda vermeintlich erlitten.[16]
Flucht aus Breda
Im Dezember 1952 gelang sieben verurteilten vormaligen niederländischen SS-Männern die Flucht aus dem Gefängnis Breda in die BRD. Die westdeutschen Behörden ließen sich ein Jahr Zeit, um sechs der sieben Flüchtigen zu finden. Die Alliierten konnten nur durchsetzen, dass einer der sechs wieder zurück in die Niederlande überstellt wurde. Die übrigen fünf erhielten kurzerhand die bundesdeutsche Staatsbürgerschaft. Rechtsgrundlage dafür war ein „Führererlass“ Adolf Hitlers aus dem Jahr 1943, der SS-Männern die deutsche Staatsbürgerschaft zusicherte. Erich Mende, damals Mitglied des FDP-Bundesvorstandes und späterer Vizekanzler der Bundesrepublik, empfing einen der vormaligen SS-Männer im Bundeshaus in Bonn, in dem damals die Plenarsitzungen des Bundestages und des Bundesrates stattfanden.[17]
Die Letzten
Die so genannten „Vier von Breda“ waren in den Niederlanden zunächst zum Tode verurteilt worden. Außer ihnen amnestierten die Regierungen der Niederlande bis 1960 alle deutschen Kriegs- und NS-Verbrecher.[18] Im Verlauf des Jahres 1962 entließen die Behörden in Belgien und Frankreich sämtliche dort noch inhaftierten deutschen NS-Verbrecher, womit die „Vier von Breda“ und Kappler die letzten noch in westeuropäischen Gefängnissen einsitzenden deutschen Kriegs- und NS-Verbrecher waren.[19]
Überparteilichkeit
Neben Politikern von CDU, CSU, FDP und den in der Frühphase der Bundesrepublik noch im Bundestag vertretenen kleineren rechten Parteien GB/BHE (Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) und DP (Deutsche Partei) engagierten sich auch SPD-Mitglieder für die Freilassung von deutschen Kriegs- und NS-Verbrechern. 1963 erklärte der Westberliner Bürgermeister Willy Brandt in einem Schreiben an Manfred Klaiber, den Botschafter der BRD in Italien, er wolle in der „Angelegenheit“ der Freilassung Kapplers seine „guten Dienste“ anbieten.[20] Auch Helmut Schmidt, sein Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers, setzte die bisherige Politik fort. Bereits 1953 hatte der Hamburger SPD-Politiker in einer Rede vor dem Hamburger Hiag-Verband erklärt, er habe „immer das Gefühl besonderer Zuversicht“ gehabt, wenn im Zweiten Weltkrieg die Waffen-SS in der Nähe gewesen sei.[21] Als Kanzler setzte Schmidt auf eine „Eskalation in der Kriegsverbrecherfrage“, wie es Bohr formuliert.[22]
Flucht, Tod und Entlassung
Von den fünf NS-Verbrechern, die in Bohrs Untersuchung im Fokus stehen, wurde Willy Lages als erster im Jahr 1966 „aus humanitären Gründen“ entlassen und unmittelbar darauf in die Bundesrepublik abgeschoben. 1977 flüchtete Herbert Kappler aus dem zentralen Militärkrankenhaus der italienischen Streitkräfte in Rom.[23] Die westdeutschen Medien berichteten darüber wohlwollend; in seiner Heimatstadt Soltau erhielt Kappler einen feierlichen Empfang, die Regierung von Kanzler Schmidt schwieg in der Öffentlichkeit dazu.[24] Zwei Jahre nach Kapplers Flucht starb Jupp Kotalla in Breda in Haft. Franz Fischer und Ferdinand aus der Fünten blieben bis zum Januar 1989 inhaftiert und wurden dann freigelassen. Bundespräsident Richard von Weizsäcker dankte daraufhin dem niederländischen Parlament für die Begnadigung.[25] Fischer und Kotalla starben beide noch im Verlauf des Jahres 1989.
Bitte lesen Sie auch unsere Rezension: Felix Bohr: Die Kriegsverbrecherlobby.
[1] Günter Baadte: Grundfragen der politischen und gesellschaftlichen Neuordnung in den Hirtenbriefen der deutschen Bischöfe 1945–1949, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Jg. 27 (1986), Nr. 95–113 (hier: S. 96).
[2] Felix Bohr: Die Kriegsverbrecherlobby: Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter, Berlin 2018, S. 59.
[3] Ebenda, S. 70. Zu Barbie s. auch Eigentum verpflichtet.
[4] S. dazu Berlin und der Vatikan.
[5] Bohr: Die Kriegsverbrecherlobby, S. 266–272.
[6] Ebenda, S. 13.
[7] Ebenda, S. 41.
[8] Ebenda, S. 119.
[9] Ebenda, S. 79.
[10] Ebenda, S. 163.
[11] Felix Bohr: Ermittlung nicht erwünscht – Das geplante „Restverfahren“ im Fall Herbert Kappler: Ein Zeugnis deutscher und italienischer Vergangenheitspolitik (1959–1961), europa.clio-online.de 2012.
[12] Bohr: Die Kriegsverbrecherlobby, S. 123.
[13] Ebenda, S. 127–129.
[14] Ebenda, S. 132.
[15] Ebenda, S. 103.
[16] Ebenda, S. 132.
[17] Ebenda, S. 111.
[18] Ebenda, S. 57.
[19] Ebenda, S. 144.
[20] Ebenda, S. 156.
[21] Ebenda, S. 133.
[22] Ebenda, S. 272–283 (Zitat aus S. 272).
[23] Felix Nikolaus Bohr: Flucht aus Rom – Das spektakuläre Ende des „Falles Kappler“ im August 1977, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 60 (2012), Nr. 1, S. 111–141.
[24] Bohr: Die Kriegsverbrecherlobby, S. 321.
[25] Bohr: Die Kriegsverbrecherlobby, S. 362.
Erschienen auf german-foreign-policy.com, 08.08.2023.
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