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David X. Noack

Kritische Perspektiven auf Geschichte und internationale Politik

Rote Fahne über Tiflis

Vor 100 Jahren marschierte die Rote Armee in Georgien ein

Zu Beginn des Jahres 1917 dominierte die Sozialdemokratie das politische System Georgiens. Im Februar 1917 stürzten die Bürger und Soldaten Petrograds die Zarenherrschaft. Daraufhin sahen sich Vertreter von Eigenständigkeitsbewegungen in der Peripherie des Landes im Auftrieb. Das Ziel war aber noch nicht die Unabhängigkeit. Armenische, aserbaidschanische und georgische Politiker gründeten im November 1917 das Transkaukasische Kommissariat zur regionalen Verwaltung. In Südossetien etablierte sich einen Monat später ein Nationalrat. Diese von den Menschewiki dominierte Vertretung bat georgische Politiker darum, keine Entscheidung in der Ossetienfrage zu suchen, da die Südosseten sich mit den Nordosseten auf der anderen Seite des Gebirges verständigen wollten. In Abchasien versuchten Revolutionäre im Februar 1918 und im April, die Macht zu übernehmen. Der erste Versuch unter der Führung des Studenten Jefrem Eschba misslang. Der zweite Versuch war – gemeinsam mit der Bauernbewegung unter Nestor Lakoba – erfolgreich. Die ausgerufene Kommune von Suchum hielt sich 42 Tage.
Im März 1918 setzten die Bolschewiki ihre Losung »Brot und Frieden« um. Sowjetrussland unterschrieb einen mit den Mittelmächten ausgehandelten Friedensvertrag. Die osmanische Regierung setzte dabei durch, dass Moskau Gebiete im Kaukasus abtreten musste. Das Transkaukasische Kommissariat lehnte das ab und rief die Transkaukasische Demokratisch-Föderative Republik aus. Die hielt sich jedoch nicht lange.

Deutsches Protektorat

Am 26. Mai 1918 erklärten menschewistische Politiker in Tiflis die Unabhängigkeit Georgiens. Zwei Tage später unterzeichneten georgische und deutsche Vertreter einen Vertrag, der Deutschland u.?a. alle Schiffe in georgischen Häfen, die freie Nutzung der georgischen Eisenbahn und die Gründung einer Bergbaugesellschaft zusicherte. Kurz darauf landeten 3.000 deutsche Soldaten an. Berlin sandte die ausschließlich bayerischen Einheiten als Teil einer umfangreicheren Asienstrategie nach Georgien. Die deutschen Truppen hielten eine Siegesparade in Tiflis ab und errichteten entlang der von Ost nach West verlaufenden Eisenbahn ins ölreiche Baku Garnisonen.
Neben der Unterordnung unter deutsche Interessen musste der neugegründete Staat das mehrheitlich muslimische Adscharien mit seinem Hauptort Batumi an das Osmanische Reich abtreten. Im Gegenzug sicherte die georgische Nationalgarde Abchasien. Gegen die Gefahr der Revolution hatten dortige Adelige die georgische Armee zur Hilfe gerufen. Deutsche Berater assistierten den Georgiern dabei.
Trotz der widrigen Umstände versuchten die Menschewiki, Georgien in ein sozialdemokratisches Musterland zu verwandeln. Starke Gewerkschaften, eine freie Presse und Versuche eines Sozialstaats waren das Ziel. Dieses sozialdemokratische Experiment war jedoch fast ausschließlich für die georgische Bevölkerung vorgesehen. Armenier, Aserbaidschaner und Russen flohen.
Georgiens Existenz als deutsches Protektorat endete mit der Niederlage des Kaiserreichs im November 1918. Während die Deutschen abzogen, landeten unmittelbar darauf britische Soldaten in Batumi. In London planten imperiale Falken wie Außenminister George Curzon und sein vormaliger Studienkollege Halford Mackinder, die Kaukasusstaaten dauerhaft von Russland abzuspalten und Batumi als Freihafen des Völkerbundes zu etablieren. Doch im Gegensatz zu den Deutschen trafen die Briten vor Ort auf wenig Gegenliebe.
Das gesamte Jahr 1918 über kam es in verschiedenen Gebieten Georgiens zu Bauernaufständen. Im März besetzten südossetische Aufständische sogar kurzzeitig Zchinwal, einen kleinen Handelsknotenpunkt. Im Frühjahr 1918 erhoben sich außerdem Bauern von Duscheti in Mittelgeorgien bis nach Senaki im Westen. Im Dezember dann armenische Bauern im Süden Georgiens, was zu einem kurzen Krieg mit Armenien führte. Im Falle Südossetiens ermordeten die Rebellen drei georgische Prinzen und wandten sich gegen die ausschließlich georgischen Großgrundbesitzer. Aus diesem Grund präsentierten einige Osseten den Konflikt als eine ethnische Auseinandersetzung. Im Oktober 1919 und im April 1920 kam es zu weiteren Aufständen von Osseten, die jedes Mal gewaltsam niedergeschlagen wurden.
Zum Beginn der Pariser Friedenskonferenz im Januar 1919 reisten auch georgische Vertreter an. Sie erhielten keine Garantien von den Vertretern der Westmächte, die die Unabhängigkeit der Kaukasusrepublik zunächst nicht anerkannten.
Lenin wies dann im März 1920 Sergo Ordschonikidse mit folgenden Worten an: »Wir müssen unbedingt Baku einnehmen. Richte alle Anstrengungen auf dieses Ziel aus!« Der Georgier leitete ab dieser Zeit die Koordinierung aller Aktivitäten der Bolschewiki im Kaukasus. Im April marschierte die Rote Armee in Aserbaidschan ein. Eine Gruppe von Bolschewiki versuchte daraufhin in Tiflis, zentrale Regierungsgebäude einzunehmen, scheiterte jedoch. Kurz darauf erkannte die Moskauer Partei- und Staatsführung erstmals die Unabhängigkeit Georgiens an. Im Gegenzug ließ die Regierung in Tiflis inhaftierte Bolschewiki frei. Moskau wies außerdem die Parteiorganisation in Nordossetien an, den Südosseten nicht mehr zu helfen, was Ordschonikidse frustrierte, da er der Meinung war, das Ende des Bürgerkrieges im Kaukasus müsse mit der roten Fahne über Tiflis enden.
Im Sommer 1920 zogen die Briten aus Batumi ab. Sie übergaben die Stadt an die Georgier, die nun einen wertvollen Hafen sowie den Endpunkt einer Eisenbahn aus Baku und den Endpunkt der längsten Ölpipeline ihrer Zeit kontrollierten.
Moskau zog die sowjetischen Truppen aus dem Kaukasus ab und schickte sie nach Polen, nachdem polnische Truppen nach einer Offensive Kiew eingenommen hatten. Im August 1920 kam es zur für Moskau verheerenden Schlacht von Warschau. Kurz darauf begannen die türkischen Nationalisten unter Atatürk mit einer Invasion Armeniens. Den Kemalisten gelang es, mehr als die Hälfte des Landes einzunehmen. Den Ostteil Armeniens nahm wiederum die Rote Armee im Handstreich. Ordschonikidse plante daraufhin, auch Georgien einzunehmen – doch es gab Widerstand aus Moskau. Das Zentralkomitee widersetzte sich ihm und bestätigte eine friedliche Politik gegenüber Tiflis.
Doch im Frühjahr 1921 gab es Berichte über eine georgische Unterstützung von Rebellen im Nordkaukasus und die Behinderung von Konvois nach Armenien. Trotz Widerständen aus den eigenen Reihen und aus Moskau suchte Ordschonikidse die Entscheidung. Am 15. Februar begann der Einmarsch der Roten Armee. Die georgischen Streitkräfte konnten ihr nichts entgegensetzen und mussten nach vier Wochen kapitulieren. Georgische Spitzenpolitiker bestiegen ein französisches Kriegsschiff und fuhren nach Westeuropa. Eine Gruppe vormaliger Menschewiki gründete daraufhin in Paris eine Exilregierung, die noch bis in die 1950er Jahre existierte. In Tiflis wehte derweil die rote Fahne.


»Schroffe antirussische Politik«. Das Auswärtige Amt über die georgischen Menschewiki

Die (…) sozialistische Regierung Jordania der demokratischen Republik Georgien ist im Februar 1921 durch militärisches Eingreifen Sowjetrusslands gestürzt und zum Verlassen des Landes gezwungen worden. Seither übt ein aus Georgiern bestehendes Revolutionskomitee gestützt auf die russische Rote Armee und daher naturgemäß in starker Abhängigkeit von Moskau die tatsächliche Gewalt in Georgien aus. (…) Nach Übernahme der Gewalt hat sie in einem Zirkularfunkspruch sich als Rechtsnachfolgerin der alten Regierung bezeichnet und die Bereitwilligkeit zur Übernahme der bestehenden Verpflichtungen mit gewissen Modifikationen ausgesprochen. Zugleich drückte sie den Wunsch aus, mit allen Staaten in diplomatische Beziehungen zu treten. (…) Es liegt in der Natur der Sache, dass die schroffe antirussische Politik (der Regierung Jordanias, D. X. N), die in ihrer Verkennung der tatsächlichen Machtverhältnisse die Katastrophe herbeigeführt hat, in erster Linie die Unterstützung Frankreichs suchen musste. Daher ist auch Paris die Hauptzentrale der gegenwärtigen Propagandatätigkeit der Regierung Jordania geworden. Gegen eine freundliche Behandlung ihrer Führer bestehen keine Bedenken, weil nicht nur sozialistische, sondern auch rechtsstehende nationale Kreise unter den durchweg sehr nationalistisch denkenden georgischen Emigranten sich in nationalen Fragen in persönlicher und sachlicher Übereinstimmung mit den menschewistischen Führern befinden. Anonyme Aufzeichnung eines Mitarbeiters des Auswärtigen Amts, Berlin, 13. Januar 1922. Zu finden in: R31505k: Geheimakten – Polit. Bezieh. Georgiens zu Deutschland

Erschienen in: junge Welt, 20.02.2021.

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