Von Vichy nach Martinique
Militär und Gesellschaft in den französischen Kolonien in den Amerikas vom Sommer 1940 bis zum Sommer 1943
Als im Frühsommer 1940 die deutsche Wehrmacht überraschend die Benelux-Staaten und Frankreich überfiel, kollabierte die Französische Republik in kürzester Zeit. General Charles de Gaulle, zu diesem Zeitpunkt Unterstaatssekretär für Verteidigung, floh nach Großbritannien und rief das „Freie Frankreich“ aus. Auf den Trümmern des alten entstand das sogenannte Vichy-Frankreich, ein autoritärer Staat mit teilweise faschistischen Zügen. Der Süden dieses neuen Staates blieb von deutschen und italienischen Truppen unbesetzt und Erstweltkriegsveteran Philippe Pétain stieg zum Präsidenten auf. In Vichy etablierte er eine reguläre Regierung und Staaten, die seine Regierung anerkannten, verlegten ihre Botschaft dorthin. US-Präsident Franklin D. Roosevelt beispielsweise schickte seinen Vertrauten William D. Leahy, einen vormaligen Marinechef. Die USA begannen sogar mit Hilfslieferungen in das vichytreue Französisch-Nordafrika, um dort den deutschen und italienischen Einfluss kleinzuhalten.1
In Übersee entschieden sich die Administrationen der verschiedenen französischen Kolonien, zu welcher Regierung sie sich bekannten – der in London unter de Gaulle2 oder der in Vichy unter Pétain. Diejenigen auf den amerikanischen Kontinenten bekannten sich – durch den Druck von Admiral Georges Robert, dem Gouverneur von Martinique – zur neuen autoritären Regierung im Mutterland. In Guadeloupe und Martinique tendierten gewählte Offizielle zwar zu den Freifranzosen, aber die koloniale Marine gab den Ton an – und dessen Führungskader tendierten zu Pétain.3 Die lokale katholische Kirche unterstützte außerdem diesen Kurs.4 Und so hatte Vichy in Amerika ein Kolonialreich von St. Pierre und Miquelon im Norden über die Karibikkolonien im Zentrum bis hin zu Guyana im Süden.
Die vichytreuen Offiziellen waren sich vor allem in der Karibik jedoch nicht sicher, dass sie die Kolonien dauerhaft halten würden. Intellektuelle auf den Inseln glaubten mehrheitlich an die Ideale der Republik.5 Auf Guadeloupe zerschlugen die Behörden bereits früh eine Verschwörung von einigen Honoratioren, die geplant hatten, die Unabhängigkeit auszurufen.6 Männliche Bürger auf den Karibikinseln hatten bereits früh viele Rechte wie im Mutterland: So durften sie seit 1871 an Wahlen teilnehmen.7 Die Selbstermächtigung der kolonialen Marine zur neuen Autorität beendete diese Entwicklungen hin zu mehr Gleichberechtigung.
Zu Gute kam den Vichy-Kollaborateuren die von der US-Regierung eingenommene Haltung. Im Juli 1940 trafen sich Vertreter der Panamerikanischen Konferenz in Havanna. Dort beschlossen die Repräsentanten der nord-, mittel- und südamerikanischen Staaten, dass die Grenzen der europäischen Kolonien auf den amerikanischen Kontinenten unantastbar seien. Damit sollte sowohl alliierten Militäraktionen als auch möglichen Annektionen der lateinamerikanischen Staaten aber auch Kanadas und Neufundlands8 ein Riegel vorgeschoben werden.9 Die USA setzten auf eine Beibehaltung des Status quo und schworen die anderen amerikanischen Staaten auf diesen Kurs ein.
Auf einer Linie mit diesen Beschlüssen verhielt sich auch die kanadische Regierung im Sommer 1940. Aus Frankreich hatte die französische Zentralbank nach Kriegsbeginn in Europa einen Teil der Goldreserven in das nordamerikanische Land bringen lassen. Nach dem Waffenstillstand wurde das Kriegsschiff Émile Bertin mit einer Ladung Gold im Wert von 245 bis 305 Millionen US-Dollar10 nach Martinique beordert. Die britische Regierung fragte in Ottawa an, ob die Kanadier die Bertin festsetzen könnten, doch die kanadische Regierung ließ das mit Gold beladene Schiff ziehen.11 Während die Regierung in London mit ihrem Juniorpartner de Gaulle auf Konfrontation setzte, blieben Ottawa und Washington bei ihrem Kurs der Beibehaltung des Status quo. Bestärkt wurden sie dabei durch die Ereignisse im August 1940: Einerseits putschte sich in Brazzaville in Französisch-Zentralafrika der in Guayana geborene Félix Eboué an die Regierung. Die Großkolonie, die alle Gebiete vom heutigen Tschad bis nach Gabun umfasste, fiel somit als erste an die Freifranzosen.12 Doch andererseits versuchten freifranzösische Schiffe gemeinsam mit ihren britischen Alliierten Dakar, die Hauptstadt Französisch-Westafrikas einzunehmen. Sie scheiterten dabei klar.13 Die militärische Niederlage der Freifranzosen schwächte die politische Rolle de Gaulles für die folgenden Jahre. In Martinique saß Admiral Robert unter diesen äußeren Umständen fest im Sattel. Der Marineoffizier stand an der Spitze der Antillenstation der Seestreitkräfte Frankreichs. Sein Stützpunkt Fort-de-France wurde durch ankommende Schiffe wie dem schweren Kreuzer Bertin aber auch der Bearn, dem damals einzigen französischen Flugzeugträger, verstärkt. Diktator Pétain versicherte mehrmals den Regierungen in Ottawa und Washington, dass er Deutschland und Italien keine Nutzung der französischen Amerikakolonien einräumen werde.14 Die US-Marine entsandte trotzdem zwei Kriegsschiffe – einerseits als Drohkulisse gegenüber den Vichyfranzosen auf Martinique und andererseits als Signal an die Briten, damit diese keine Militäraktionen unternehmen würden.15 In einem spontan formulierten Abkommen – dem sogenannten Gentlemen’s Agreement – einigten sich ein lokaler US-Admiral und Robert auf die Modalitäten der „bewaffneten Neutralität“ von Martinique. Flugzeuge und Kriegsschiffe sollten von der Insel aus nicht operieren und die USA dürften einen Militärattaché nach Fort-de-France entsenden sowie nahe Martinique patrouillieren, um die Nichtaktivität der Marineeinheiten auf der Insel zu überprüfen.16 Als Gegenleistung lieferten US-amerikanische Schiffe Nahrungsmittel und Treibstoffe auf die Inseln.17 Diese Lieferungen waren jedoch keine Wohltätigkeit: Die US-Regierung hatte die Haupthandelspartner der französischen Karibikkolonien – die Dominikanische Republik, Brasilien, Venezuela, Kanada sowie die lokalen niederländischen Kolonien – gebeten, den Handel mit den vichytreuen Inseln und Gebieten abzubrechen.18 Die britische Regierung in London, de facto im Krieg mit Pétains Regime, wies ihre Kolonien in der Karibik ebenso an, den Handel mit den vichytreuen Gebieten abzubrechen.19 Washington wollte zwar den Status quo aufrechterhalten, aber für den Fall aller Fälle allein die Im- und Exporte der Vichykolonien kontrollieren. In Guayana planten freifranzösische Offiziere einen Coup ähnlich zu dem in Zentralafrika. Zustimmung signalisierten de Gaulle und Churchill in London. Als über die Briten die Regierung in Washington jedoch davon erfuhr, begannen Gegenmaßnahmen der USA. Im September 1940 erreichte ein US-Kriegsschiff den Haupthafen der Kolonie, Cayenne. Der mitgereiste Konsul Adrian B. Colquitt hatte den Auftrag, die innenpolitische Situation zu „neutralisieren“. Colquitt versicherte den vichyfranzösischen Offiziellen, dass die USA kein Interesse an einer Veränderung der Verhältnisse hätten. Auch brasilianischen Gebietsforderungen zum Grenzgebiet mit Französisch-Guayana würde nicht stattgegeben.20 Die pétaintreuen Kolonialbehörden zerschlugen daraufhin die politische Opposition in Guayana mit US-Unterstützung. Den zunächst einzigen gewaltsamen Wechsel einer Amerikakolonie von den Vichyfranzosen zu den Freifranzosen plante de Gaulle mit der „Invasion“ von St. Pierre und Miquelon vor der kanadischen Küste. Die dortigen Behörden hatten sich mit den Regierungen in Kanada und Neufundland arrangiert. Die Insel wäre für den Ernstfall aber auch nicht gerüstet gewesen: Sie hatte keine militärischen Befestigungen, es gab keine schweren Waffen und auch keine Flugzeuge. Gegen den Willen der britischen, kanadischen, neufundländischen und US-Regierung nahmen freifranzösische Truppen die kleine Inselgruppe zu Weihnachten 1941 ein.21 Es sollte zunächst die einzige Amerikakolonie unter freifranzösischer Kontrolle bleiben. Mit dem Bekenntnis zur autoritären Regierung in Vichy gingen auch rassistische und antisemitische Maßnahmen in den Karibikkolonien einher. Vielen Bürgerinnen und Bürgern mit nichtweißer Hautfarbe wurde die Staatsbürgerschaft entzogen und sie konnten keine öffentlichen Aufgaben mehr übernehmen.22 Im Verlauf des Jahres 1941 dehnte die Vichy-Regierung auch ihre antisemitische Gesetzgebung auf die Kolonien aus. Das führte dazu, dass die Behörden dort die lokalen Juden zählten.23 Die Wende hin zu einem autoritären Staat genau wie die schlechte Versorgungslage führte dazu, dass über 4.000 Bewohner von Martinique in die benachbarten britischen Inseln Dominica und St. Lucia übersetzten, um sich den Freifranzosen anzuschließen. Einer von ihnen war Frantz Fanon, der später als Vordenker der Entkolonialisierung bekannt wurde.24
Trotz der ersten antisemitischen Maßnahmen flohen einige jüdische Geflüchtete von Frankreich in die Karibikkolonien. Von Marseille im damals nicht von den Deutschen besetzten Süden Frankreichs gab es Schiffstransporte nach Martinique. Unter den Geflüchteten befanden sich Tschechoslowaken25, politische Flüchtlinge und Juden, die dem Zugriff der Nazis entfliehen wollten. Unter ihnen befanden sich der später berühmte französisch-belgische Anthropologe Claude Lévi-Strauss und die deutsche Schriftstellerin Anna Seghers.26 Das Ankommen von jüdischen Geflüchteten führte auch zu Gegenreaktionen der vichytreuen Offiziellen auf Martinique. So kabelte der Gouverneur der Insel im Januar 1941, dass die Ankunft von Mitteleuropäern angeblich Sorgen bei den USA auslösen würden. Die Gouverneure von Guadeloupe und Guayana schlossen sich ihm an. Die Kolonialoffiziere schoben dabei die USA als Grund vor, um keine Juden in ihre Gebiete zu lassen. Admiral Robert beschränkte daraufhin die Immigration auf 400 Menschen.27
Die Situation für die Vichy-Karibik änderte sich Ende des Jahres 1942. Als Teil der „Operation Torch“ landeten alliierte Truppen in Algerien und Marokko und bekämpften dort vichytreue Truppen. Daraufhin brach die Vichy-Regierung die diplomatischen Beziehungen zu den USA ab und deutsche sowie italienische Truppen besetzten Südfrankreich. Die Kollaborateure unter Marschall Pétain hatten fortan kaum noch einen eigenständigen Spielraum in den Außenbeziehungen. Im März 1943 boten US-Vertreter dem Gouverneur von Guayana eine sichere Passage nach Europa an, wenn er abtreten würde. Das tat er dann auch. Im April brachen die USA die Beziehungen zu Admiral Robert auf Martinique ab und Anfang Juni konnten Freifranzosen die Kontrolle von Guadeloupe übernehmen. Die erste öffentliche Demonstration – obwohl verboten – gegen die Vichyherrschaft in Fort-de-France fand ebenso im Juni 1943 statt.28 Der Druck von innen und von außen auf die pétaintreuen Offiziere nahm zu. Ende desselben Monats trat Admiral Robert ab und durfte über die US-Kolonie Puerto Rico nach Europa zurückkehren.29 Die Geschichte der Vichy-Kolonien in der Karibik fand somit ihr Ende.
In Guadeloupe wurden die rassistischen und antisemitischen Gesetze schnell zurückgenommen und das allgemeine Wahlrecht für Männer wieder eingeführt.30 Dabei blieb es nicht: Zwei aus Martinique stammende kommunistische Abgeordnete der französischen Nationalversammlung, Aimé Césaire und Léopold Bissol, brachten in das Parlament des Mutterlandes den Gesetzesvorschlag ein, dass Martinique und Guadeloupe als Übersee-Departements rechtlich quasi Teil des Mutterlandes werden sollten. Das Parlament nahm das Gesetz an und bei Volksabstimmungen votierte die Mehrheit der Inselbewohner für die Regelung. Bis heute existiert dieser Status.
Die immerhin drei Jahre dauernde Vichyherrschaft der französischen Amerikakolonien offenbarte auf den Inseln sowie in Guayana einen unmaskierten Kolonialismus. Die Vichy-Offiziellen lebten ihren Rassismus und Antisemitismus offen aus.31 In der unmittelbaren Nachkriegszeit stellten die USA mit der Rassentrennung im Inneren und ihrer problematischen neokolonialen Rolle in der Karibik – allen voran im französischsprachigen Haiti32 – für viele Intellektuelle und die Mehrheit der Bewohner der Insel keine Alternative dar.33 So entschied sich die Mehrheit für die politische Gleichberechtigung innerhalb der Französischen Republik.
1. R. T. Thomas: Britain and Vichy – The Dilemma of Anglo-French Relations 1940–42, London/Basingstoke 1979, S. 88–117.
2. Als Hauptstadt legte de Gaulle symbolisch Brazzaville in Französisch-Äquatorialafrika (heute die Hauptstadt der Republik Kongo) fest. Das Komitee zur nationalen Befreiung, dem er vorstand, residierte aber in London.
3. Eric T. Jennings: Escape from Vichy – The Refugee Exodus to the French Caribbean, Cambridge 2018, S. 118.
4. Stephen J. Randall/Graeme S. Mount: The Caribbean Basin – An International History, London 1998, S. 80.
5. Jennings: Escape from Vichy, S. 118.
6. Fitzroy André Baptiste: War, Cooperation, and Conflict – The European Possessions in the Caribbean, 1939–1945, New York 1988, S. 70.
7. Eric T. Jennings: Vichy in the Tropics: Pétain’s National Revolution in Madagascar, Guadeloupe, and Indochina, 1940–1944, Stanford 2001, S. 79.
8. Neufundland war bis 1949 separat von Kanada. Zur neufundländischen Geschichte bis in die 1930er Jahre: David X. Noack: Auf den Hund gekommen, in: junge Welt, 19.02.2019.
9. Martin Thomas: Deferring to Vichy in the Western Hemisphere: The St Pierre and Miquelon Affair of 1941, in: The International History Review, Jg. 19 (1997), Nr. 4, S. 809–835 (hier: S. 816).
10. Thomas: Deferring to Vichy in the Western Hemisphere: The St Pierre and Miquelon Affair of 1941, S. 816.
11. Ebenda.
12. Baptiste: The Anti-Vichyite Movement in French Guiana, June to December 1940, S. 299.
13. Martin Thomas: The Anglo?French Divorce over West Africa and the Limitations of Strategic Planning, June–December 1940, in: Diplomacy & Statecraft, Jg. 6 (1995), Nr. 1, S. 252–278.
14. Thomas: Deferring to Vichy in the Western Hemisphere: The St Pierre and Miquelon Affair of 1941, S. 810.
15. Calvin W. Hines: Orphans of war: United States diplomacy and the French West Indies, 1940–1943, in: Proceedings of the Meeting of the French Colonial Historical Society, Jg. 15 (1992), S. 101–115 (hier: S. 104).
16. Hines: Orphans of war: United States diplomacy and the French West Indies, 1940–1943, S. 107.
17. Kim Munholland: Rock of Contention – Free French and Americans at War in New Caledonia, 1940–1945, New York 2005, S. 22.
18. Randall/Mount: The Caribbean Basin, S. 80.
19. Kristen Stromberg Childers: The Second World War as a watershed in the French Caribbean, in: Atlantic Studies, Jg. 9 (2012), Nr. 4, S. 409–430 (hier: S. 415).
20. Baptiste: The Anti-Vichyite Movement in French Guiana, June to December 1940, Nr. 3, S. 299–300.
21. Thomas: Deferring to Vichy in the Western Hemisphere: The St Pierre and Miquelon Affair of 1941, S. 809–835.
22. Randall/Mount: The Caribbean Basin, S. 80.
23. Michael Robert Marrus/Robert O. Paxton: Vichy France and the Jews, Stanford 1996, S. 106.
24. Leo Zeilig: Frantz Fanon – The Militant Philosopher of Third World Revolution, London 2015, S. 24.
25. Laut einem Gesetz aus dem Jahr 1939 galten Tschechoslowaken, die in der französischen Armee dienten, als französische Staatsbürger. Die tschechoslowakische Exilregierung saß damals in Paris. Der Waffenstillstand von 1940 verbot französischen Soldaten dann, ihr Staatsgebiet zu verlassen. Die Exilregierung floh derweil nach London.
26. Eric Jennings: Last Exit from Vichy France: The Martinique Escape Route and the Ambiguities of Emigration, in: The Journal of Modern History , Jg. 74 (2002), Nr. 2, S. 289–324. 27. Jennings: Escape from Vichy, S. 42/43.
28. Stromberg Childers: The Second World War as a watershed in the French Caribbean, S. 415.
29. Randall/Mount: The Caribbean Basin, S. 80.
30. Jennings: Vichy in the Tropics, S. 127/128.
31. Ruth Ginio: French Colonialism Unmasked: The Vichy Years in French West Africa, Lincoln/London 2006, S. 184.
32. David X. Noack: Schuldner, Kanonenboote und Banditen für die Wall Street, amerika21.de 21.08.2011.
33. Stromberg Childers: The Second World War as a watershed in the French Caribbean, S. 415.
Erschienen in amerika21.de, 29.05.2020.