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David X. Noack

Kritische Perspektiven auf Geschichte und internationale Politik

Auf Distanz zu Russland

Doppelte Wirtschaftskrise und versuchter Befreiungsschlag. Belarus sucht »neue Märkte«. Erste Bilanz der Eurasischen Union ernüchternd

Andrej Kobjakow will Belarus auf Distanz zum großen Nachbarn bringen. Am Sonnabend forderte der Premierminister des osteuropäischen Zehn-Millionen-Einwohner-Landes während einer Kabinettssitzung eine »dynamischere Umorientierung« der Exporte »vom russischen auf andere Märkte«. Ursachen dieser wirtschaftspolitischen Umorientierung ist eine doppelte Krise, mit der sich die Regierung in Minsk derzeit auseinandersetzen muss: Die eigene Wirtschaft schwächelt. Und wegen der großen gegenseitigen Abhängigkeiten schlagen auch die ökonomischen Probleme Russlands im Nachbarland durch. Nach einem starken Wachstum Anfang des Jahrzehnts setzte zunächst der hohe Ölpreis der belorussischen Ökonomie zu. Dieser ist zwar nun erheblich niedriger, aber dafür leidet die Wirtschaft des Landes verstärkt durch die enge Verquickung mit Russland.

Anfang des Jahres wurde der einheimische Rubel um 30 Prozent abgewertet. Eine kurzfristig eingeführte hohe Devisensteuer erschwerte die Flucht in Fremdwährungen. Die schon seit Jahren anhaltende starke Inflation setzt darüber hinaus vielen Bürgern des Landes zu. Lohnerhöhungen im staatlichen Sektor lassen auf sich warten, und mittelständische private Betriebe haben sogar Probleme, überhaupt die Löhne auszuzahlen. Beim internationalen Aushängeschild der Wirtschaft, dem Traktorenhersteller MAZ (MAS), standen jüngst sogar die Bänder für eine Woche still, die Arbeiter wurden nach Hause geschickt. Der Konzern musste im ersten Quartal 2015 seine Produktion um ein Drittel reduzieren. Die Käufe solcher Maschinen in der Russischen Föderation brachen in demselben Zeitraum um die Hälfte ein. »Schon seit Jahren müssen Arbeiter immer wieder in Teilzeit gehen«, sagt Witali gegenüber jW, der für einen staatlichen Technikkonzern arbeitet. »Aber die Belorussen haben schon viele Wirtschaftskrisen gesehen, das ist nicht die schlimmste.«

Die Probleme der mehrheitlich in staatlicher Hand geführten Wirtschaftskonzerne des Landes spitzten sich zuletzt weiter zu: In vielen Betrieben wurde seit mehreren Wochen für die Beschäftigten die Arbeitswoche verkürzt. Das bedeutet weniger Lohn, bewirkt aber, dass die offizielle Arbeitslosenstatistik (0,9 Prozent) niedrig bleibt. In dem Land befinden sich zirka 70 Prozent der Konzerne in staatlicher Hand, in Russland sind es noch 35 Prozent. Doch eine neoliberale Schocktherapie für sein Land schloss Präsident Alexander Lukaschenko erst Ende Januar wieder aus. »Viele Menschen würden arbeitslos. Das wäre das Schlimmste. Das lassen wir deshalb nicht zu«, sagte das Staatsoberhaupt.

Doch die Abhängigkeit von Russland ist groß. So setzten beispielsweise viele Heilbäder im Land auf dessen finanzkräftige Touristen. Doch der Verfall des russischen Rubels und der sinkende Ausstoß der größten Ökonomie in der Eurasischen Union (EAWU) lässt viele Russen lieber in der Heimat oder gar keinen Urlaub machen. Durch die verminderte Kaufkraft von Privatpersonen und Konzernen können belorussische Unternehmen auch immer weniger Produkte in der Russischen Föderation absetzen.

So fällt auch die erste Bilanz der EAWU ernüchternd aus. Mit der Gründung der Zollunion – des EAWU-Vorläufers – zum 1. Januar 2010 stieg das Handelsvolumen zwischen Belarus, Kasachstan und Russland enorm an. Von 2009 bis 2012 verdoppelte sich der Warenaustausch zwischen den drei Staaten fast. Wegen dieser engen Bindungen an Moskau leiden jetzt sowohl die belorussische wie auch die kasachische Wirtschaft. Seit dem 2. Januar gehört auch Armenien zur EAWU.

Vor diesem Hintergrund scheint das Vorpreschen von Premier Kobjakow am Wochenende verständlich. Das mag aber auch an dem Umstand liegen, dass Russland gerade Kredite an Tadschikistan und vielleicht demnächst an Griechenland vergibt und die Moskauer Mittel für Belarus knapper werden könnten. Um das aktuelle Wirtschaftsmodell refinanzieren zu können, versucht die Regierung in Minsk seit einigen Monaten verstärkt, die Beziehungen sowohl zu China als auch zur Europäischen Union und zu den USA zu verbessern. Mit Peking soll u. a. über eine Beteiligung am Infrastrukturprojekt einer »Neuen Seidenstraße« verhandelt werden – einem Verkehrsprojekt von gewaltigem Ausmaß, das das Reich der Mitte mit dem Mittleren und Nahen Osten sowie mit Europa verbinden soll.

junge Welt, 28.04.2015

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