Der Erste Weltkrieg in Mittel- und Südamerika
Der Erste Weltkrieg in Mittel- und Südamerika hatte eine längere Vorgeschichte mit einem enormen Anstieg des deutschen Einflusses in der Region. Vor dem Hintergrund des globalen Einflussverlustes des britischen Empires gewann das mitteleuropäische Kaiserreich an großem Einfluss. Eine als aggressiv verstandene deutsche Politik im Pazifik und in Mittel- und Südamerika sowie der verstärkte Flottenbau in Deutschland ließen in der US-amerikanischen Elite das Gefühl aufkommen, dass das Kaiserreich ein potenzieller Feind der Vereinigten Staaten sei.1 Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts richtete die deutsche Marine eine eigene Flotte für Süd- und Mittelamerika ein.2
Koloniale Traditionen
Ein Objekt deutscher Begierden waren beispielsweise die dänischen Jungferninseln. Die Christianisierung der dänischen Westindieninseln erfolgte ab 1732 unter dem deutschen lutherischen Theologen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf.3 Im 18. Jahrhundert hatten norddeutsche Kaufmänner und Politiker allgemein großen Einfluss auf die Kolonie des nordeuropäischen Königreiches. Mitte des 19. Jahrhunderts strandete eine deutsche Kolonisationsmission auf den dänischen Jungferninseln.4 In den 1890er Jahren verhandelte die deutsche Reichsführung dann mit der dänischen Regierung über den Kauf dieser Karibikbesitzung.5
Eine deutsche Kolonie in Mittelamerika schien somit zum ersten Mal möglich. Alfred von Tirpitz, Großadmiral der deutschen Marine und einer der kriegstreibenden Kräfte im Deutschland des späten Kaiserreichs, wandte sich damals jedoch noch gegen den Kauf dieser Inseln, da es den USA gegenüber eine zu große Provokation sei.6 Des Öfteren verhandelten das Königreich Dänemark und die Vereinigen Staaten über einen Verkauf der Inseln – Vereinbarungen scheiterten jedoch stets, unter anderem wegen des deutschen Einflusses.
Weit verbreitet in der deutschen Eliten waren Pläne, deutsche Kolonien in Lateinamerika zu erwerben. So hatte Großadmiral Tirpitz die Idee, eine deutsche Kolonie in Südbrasilien zu etablieren sowie eine der Galapagos-Inseln und alle niederländischen Kolonien in Mittelamerika zu erwerben.7 Homer Lea, einer der Begründer der US-amerikanischen Denkschule der Geopolitik und meist gelesensten Militärautoren seiner Zeit, ging kurz vor seinem Tod im Jahr 1912 davon aus, dass die Niederlande dem Deutschen Reich beitreten würden. Niederländisch-Guayana (Surinam), St. Marteen und die Niederländischen Antillen wären somit deutsch geworden und das mitteleuropäische Kaiserreich hätte ein eigenes Kolonialreich in der Karibik erworben. Doch der deutsche Einfluss beschränkte sich zunächst weiter auf den Handel und das Militär.
Die Venezuela-Blockade Ende 1902 bzw. Anfang 1903 markierte den Höhepunkt deutscher Kanonenbootpolitik in Südamerika. Gemeinsam mit Schiffen der italienischen und britischen Marine blockierte eine Flottille der deutschen Marine venezolanische Häfen. Deutsche Marinekommandos landeten sogar auf dem venezolanischen Festland an und lieferten sich Gefechte mit Armeeeinheiten des südamerikanischen Landes.
Deutsche Interessen im Mittelamerika
Die erste Dekade des 20. Jahrhunderts stellte das Jahrzehnt des größten Einflusses Deutschlands in Zentralamerika dar. So genoss das Deutsche Reich (neben Frankreich) exklusive Zollrechte in El Salvador – im Gegensatz zu den USA.8 Ebenso verhandelte José Santos Zelaya, der nicaraguanische Präsident von 1893 bis 1909, mit Deutschland und Japan über den Bau eines Kanals durch sein Land.9 Die Errichtung eines Nicaragua-Kanals hätte einen Rückschlag für die US-amerikanischen Pläne für den Panamakanal dargestellt.
Auch in der Karibik reichte der deutsche Einfluss weit. So kontrollierten Deutschstämmige circa 90 Prozent des Handels von Haiti und die Hamburg-Amerika-Linie hatte im Außenhandel der Inselrepublik ein Monopol errungen.10 Auch im Handel der dänischen Jungferninseln hatte Deutschland eine besondere Rolle eingenommen und Gerüchte machten die Runde, dass die Dänen deutsche Unternehmen bevorzugen würden.11
Ähnlich weit wie in anderen Gegenden Amerikas reichte der deutsche Einfluss in Südamerika. Ab 1885 diente der Artillerie-Hauptmann Emil Körner für die deutsche Militärmission in Chile. Er stieg in der chilenischen Armee weiter auf und amtierte von 1900 bis 1910 sogar als Generalinspekteur des chilenischen Heeres. Die chilenische Armee kam zu einem guten Ruf und schickte Militärberater nach El Salvador und Ecuador.12 Zwischenstaatliche Kreditverträge sorgten dafür, dass Deutschland eine besondere Rolle im Außenhandel Chiles einnehmen konnte.13
Darüber hinaus trainierten in Bolivien ab 1910 deutsche Militärberater einheimische Soldaten.14 Nach Argentinien hatte das Kaiserreich ebenso eine Militärmission geschickt, die das dortige Militär ausbildete. Größere deutsch-argentinische Rüstungsgeschäfte verhalfen Berlin auch zu größerem Einfluss in der Ökonomie des Landes am Río de la Plata.15
Das Kernstück deutscher Bemühungen um Brasilien wiederum stellte Südbrasilien dar. Mit Städten wie Blumenau existierten dort bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts Siedlungen Deutschstämmiger. In den Plänen einiger führender deutsche Kolonialenthusiasten sollte aus den deutsch dominierten Provinzen eine deutsche Kolonie werden. Für Irritationen in Washington sorgte dementsprechend 1911 die Ernennung des deutschstämmigen Brasilianers Lauro Müller zum Außenminister seines Landes.16
US-Amerikanische Empfindlichkeiten
Doch die Ansichten in Politik und Militär der USA, wie groß der deutsche Einfluss in Lateinamerika zu bemessen sei und wie die deutschen Ziele einzuschätzen sind, gingen weit auseinander. So schrieb der damalige US-Militärattaché in Peru im Jahr 1912 in einem Memo, dass die ökonomische Vorherrschaft in Südamerika an Deutschland fallen werde. Die Deutschen seien die wirtschaftlich tonangebende Macht in Brasilien und Chile. Zudem seien sie drauf und dran diese Position auch in Kolumbien, Argentinien, Bolivien, Peru und Ecuador zu erreichen.17
Gegensätzlich wiederum äußerte sich John B. Jackson, der ehemalige US-Botschafter auf Kuba. Nachdem Jackson im Jahr 1910 auf Bitte des US-Staatssekretärs Knox den Kongress der deutschen Kolonialgesellschaft besucht hatte, drahtete er nach Washington, dass keinerlei aggressive Bestrebungen in der deutschen Politik gegenüber der westlichen Hemisphäre festzustellen seien.18
Positionierung im Krieg
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen und der divergierenden Ansichten begannen nach dem deutschen Blankoscheck an die österreichisch-ungarische Regierung Ende Juli 1914 die Kriegserklärungen in Mitteleuropa. Viele der als pro-deutsch angesehenen Regierungen lateinamerikanischer Staaten verfolgten eine Politik der strikten Neutralität. Die Siedlungen Deutschstämmiger führten in Südamerika genau wie in Deutschland sowie Österreich-Ungarn Kriegsnagelungsaktionen durch. Bei dieser Massenbewegung wurden Holzfiguren aufgestellt, die gegen eine Spende für den Kriegsaufwand der Mittelmächte mit einem Nagel verziert werden durften.19
Die Jahre 1915 und 1916 sahen einerseits Erfolge von beiden Seiten im mitteleuropäischen Krieg und andererseits das Ende der größeren nicht-europäischen Feldzüge oder Verteidigungsaktionen der Mittelmächte, wie in Tsingtao (China), Persien, Afghanistan und den meisten deutschen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent. Die pazifischen Kolonien des Kaiserreiches fielen ebenso an die Entente.
Kriegserklärungen
Im Februar 1917 begann die deutsche Marine ihren unbegrenzten U-Boot-Krieg. Am 5. April desselben Jahres folgte die erste Versenkung eines brasilianischen Dampfers. Im Mai trat der brasilianische Außenminister Lauro Müller zurück.20 Im Verlaufe des Jahres folgten die meisten mittel- und südamerikanischen Kriegserklärungen an die Mittelmächte.21 Die venezolanische Regierung unter Präsident Victorino Márquez Bustillos, von 1914 bis 1922 im Amt, weigerte sich, Deutschland den Krieg zu erklären, tauschte jedoch die pro-deutschen Minister für Inneres, Entwicklung und Bildung aus.22
Als die bekannteste Episode des Ersten Weltkrieges in Süd- und Mittelamerika gelten die Ereignisse um das so genannte „Zimmermann-Telegramm“. Arthur Zimmermann diente ab November 1916 als Staatssekretär im Reichsaußenministerium, was dem Amt des Außenministers heute entspricht. Unter der Zimmermann-Depesche wird das Schriftstück verstanden, welches Zimmermann im Januar 1917 über die deutsche Botschaft in Washington an den deutschen Gesandten in Mexiko schickte.
Im dem Telegramm bot Zimmermann der mexikanischen Regierung eine militärische Allianz an. Das lateinamerikanische Land solle auf Seiten der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg eintreten und würde dafür die Verluste aus dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg 1846-1848 zurück erhalten. Der britische Geheimdienst, der an ein deutsches Codebuch in Persien gelangt war, entzifferte das Telegramm und übergab es an die US-Regierung.23
Die Veröffentlichung des Inhalts der Zimmermann-Depesche diente dazu, die US-amerikanische Öffentlichkeit vom Eintritt in den Ersten Weltkrieg zu überzeugen. Die Wahl Zimmermanns auf Mexiko fiel dabei nicht von ungefähr. Seit 1910 trainierte eine deutsche Militärmission Truppen in dem Land. Als im Verlaufe des Jahres 1914 US-amerikanische Truppen den wichtigen mexikanischen Atlantikhafen Veracruz besetzten, schwenkte die mexikanische Regierung auf eine den USA gegenüber feindselige Politik ein.24 Die strikte Neutralitätspolitik der mexikanischen Regierung führte dazu, dass deutsche Unternehmen weiter Handel in dem Land treiben durften.25
Süd- und Mittelamerika stellten im Ersten Weltkrieg keinen Hauptschauplatz dieses globalen Konfliktes dar. Jedoch hatte das Deutsche Reich in den Jahren vor 1914 eine große Rolle in Politik, Wirtschaft und Militär diverser lateinamerikanischer und karibischer Staaten eingenommen. Die Bedrohungsrezeption einiger US-Politiker und -Militärs führte unter anderem zur Besetzung Haitis 1915 und der Dominikanischen Republik 1916 sowie dem Kauf der dänischen Jungferninseln 1917. Der Erste Weltkrieg veränderte somit auch die Landkarten und wirtschaftlichen Verflechtungen dieser Region.
1. Johannes Reiling: Deutschland, safe for democracy?, Stuttgart 1997, S. 34.
2. Frederick W. Marks: Velvet on Iron: The Diplomacy of Theodore Roosevelt, Lincoln (NE) 1982, S. 6.
3. Ennis B. Edmonds/Michelle A. Gonzalez: Caribbean Religious History: An Introduction, New York (NY) 2010, S. 78.
4. Thomas Schoonover: Germany in Central America: Competitive Imperialism, 1821-1929, Tuscaloosa (AL) 2012, S. 19.
5. Johannes Reiling: Deutschland, safe for democracy?, Stuttgart 1997, S. 34.
6. Patrick J. Kelly: Tirpitz and the Imperial German Navy, Bloomington (IN) 2011, S. 449.
7. Frederick W. Marks: Velvet on Iron: The Diplomacy of Theodore Roosevelt, Lincoln (NE) 1982, S. 6.
8. Thomas Schoonover: A United States Dilemma: Economic Opportunity and Anti-Americanism in El Salvador, 1901-1911, in: Pacific Historical Review, Jg. 58 (1989), Nr. 4, pp. 403-428 (hier: S. 420).
9. Ellin Sterne Jimmerson: “In the Beginning – Big Bang”: Violence in Ernesto Cardenal’s Coscmic Canticle, in: Beth Hawkins Benedix (Hg.): Subverting Scriptures – Critical Reflections on the Use of the Bible, Basingstoke 2009, S. 129-147 (hier: S. 130).
10. Melvin Small: The United States and the German „Threat“ to the Hemisphere, 1905-1914, in: The Americas, Jg. 28 (1972), Nr. 3, S. 252-270 (hier: S. 257).
11. Ebenda, S. 261.
12. John J. Johnson: The Military and Society in Latin America, Stanford (CA) 1964, S. 70.
13. Jonathan R. Barton: Struggling against Decline: British Business in Chile, 1919-33, in: Journal of Latin American Studies, Jg. 32 (2000), Nr. 1, S. 235-264 (hier: S. 237).
14. William F. Sater: The impact of foreign advisors on Chile’s armed forces, 1810–2005, in: Donald Stoker (Hg.): Military Advising and Assistance: From Mercenaries to Privatization, 1815–2007, New York 2008, S. 26-41 (hier: S. 26).
15. Warren Schiff: The Influence of the German Armed Forces and War Industry on Argentina, 1880-1914, in: The Hispanic American Historical Review, Jg. 52 (1972), Nr. 3, S. 436-455.
16. Melvin Small: The United States and the German „Threat“ to the Hemisphere, 1905-1914, in: The Americas, Jg. 28 (1972), Nr. 3, S. 252-270 (hier: S. 269).
17. Melvin Small: The United States and the German „Threat“ to the Hemisphere, 1905-1914, in: The Americas, Jg. 28 (1972), Nr. 3, S. 252-270 (hier: S. 253).
18. Ebenda, S. 254.
19. Hans-Christian Pust: Kriegsnagelungen in Österreich-Ungarn, dem Deutschen Reich und darüber hinaus, in: Stefan Karner/Philipp Lesiak (Hgg.): Erster Weltkrieg: Globaler Konflikt – lokale Folgen: Neue Perspektiven, Innsbruck/Wien/Bozen 2014, S. 211-224 (hier: S. 221-223).
20. Frank J. Nellißen: Das Mannesmann-Engagement in Brasilien von 1892 bis 1995 – Evolutionspfade internationaler Unternehmensstätigkeit aus wirtschaftshistorischer Sicht, München 1997, S. 44.
21. 07.04.1917 Kuba (Deutschland), 07.04.1917 Panama (Deutschland), 13.04.1917 Bolivien, 06.10.1917 Peru, 07.10.1917 Uruguay, 26.10.1917 Brasilien, 07.12.1917 Ecuador, 10.12.1917 Panama (Österreich-Ungarn), 16.12.1917 Kuba (Österreich-Ungarn), 22.04.1918 Guatemala, 08.05.1918 Nicaragua, 23.05.1918 Costa Rica, 12.07.1918 Haiti und 19.07.1918 Honduras.
22. B. S. McBeth: Juan Vicente Gomez and the Oil Companies in Venezuela, 1908-1935, Cambridge 1983, S. 22.
23. Saul Kelly: Room 47: The Persian Prelude to the Zimmermann Telegram, in: Cryptologia, Jg. 37 (2013), Nr. 1, S. 11-50.
24. John Mason Hart: Empire and Revolution: The Americans in Mexico since the Civil War, Berkeley (CA) 2002, S. 307.
25. Jürgen Buchenau: Tools of Progress: A German Merchant Family in Mexico City, 1865-present, Albuquerque (NM) 2004, S. 82.
amerika21.de, 26.05.2014