Ein europäischer Think-Tank mit Verbindung nach Deutschland plädiert für den Aufbau eines EU-kontrollierten „Großraums“ vom Polarmeer über Zentralasien und Nahost bis Nordafrika. Die „Group on Grand Strategy“ (GoGS) will mit dem „Großraum“ („Grand Area“) dem ihrer Auffassung nach zu errichtenden europäischen Föderationsstaat eine Machtbasis schaffen, die europäische Rohstoffinteressen bedienen und weitestgehend gegen die Einflussnahme außereuropäischer Mächte abgeschirmt sein soll. Die Konzeption, die in vielerlei Hinsicht mit deutschen Interessen konform geht, sieht unter anderem vor, den „Großraum“ mit einem Netz von Militärbasen zu überziehen, die „europäisch“ und damit jeder nationalen Kontrolle enthoben sein sollen. Dem Beirat der Vereinigung gehört eine Vertreterin der Bertelsmann-Stiftung an, eines der einflussreichsten deutschen Think-Tanks; die Politikwissenschaftlerin bearbeitet für die Stiftung den Themenbereich „Europas Zukunft“.
Liberale Ordnung
Den „Großraum“-Plan hat James Rogers, ein Mitbegründer der Group on Grand Strategy, verfasst. In seinem umfassenden Papier „A new Geography of European Power?“ plädiert er dafür, einen solchen „Großraum“ („Grand Area“) unter EU-Kontrolle zu bringen. In diesem Gebiet müssten zivile und militärische Kräfte aus Europa regelmäßig intervenieren, um „Unordnung“ zu beseitigen und eine „liberale Ordnung“ zu gewährleisten. Der „Großraum“ soll Rogers zufolge die „geringste Wahrscheinlichkeit“ einer Intervention außereuropäischer Mächte aufweisen und möglichst „kosteneffektiv“ mit einer angepassten Gemeinsamen EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu verteidigen sein.[1] Er umfasst ganz Europa inklusive Island und Grönland, greift dann weiter bis nach Zentralasien und auf Teile Südostasiens aus und erstreckt sich schließlich bis nach Nahost und Nordafrika. Orientiert sich die Karte größtenteils an den derzeitigen international anerkannten Grenzen, so verläuft sie im Falle Russlands quer durch dessen Staatsgebiet.
70° Ost
Als Ostgrenze der „Grand Area“ zeichnet James Rogers eine Linie von der pakistanisch-indischen Grenze über die chinesisch-kasachische Grenze und das westsibirische Ischim bis nach Norden ins Polarmeer. Die nordsibirischen Jamal-Gasfelder, die zu den größten der Welt gehören, sind eigens eingezeichnet und werden dem europäisch kontrollierten „Großraum“ zugeschlagen. Die russische Kleinstadt Ischim liegt am 69. östlichen Längengrad. Nur wenig davon entfernt, entlang des 70. östlichen Längengrades, hatte das faschistische Deutschland im Verlauf des Zweiten Weltkrieges seine Interessensphäre von derjenigen des verbündeten japanischen Kaiserreiches abgegrenzt.
Group on Grand Strategy
Die Group on Grand Strategy, die die „Großraum“-Planungen veröffentlicht, hat sich im Sommer 2011 gegründet – laut ihrem Manifest, um den „europäischen Abstieg“ im Zuge der weltweiten Kräfteverlagerung vom Atlantik zum Pazifik [2] zu verhindern. Sie will eine „Plattform für europäische strategische Denker“ sein und ein selbstdefiniertes „europäisches Interesse“ in der öffentlichen Debatte stark machen. Insbesondere will sie die Diskussion über eine „europäische Großstrategie“ fördern. Ihre Vorhaben stuft die Group on Grand Strategy laut ihrer eigenen Zielbeschreibung („Manifesto“) als „abenteuerlich“ ein.[3] Im Beirat („Advisory Board“) der Vereinigung ist mit der Politikwissenschaftlerin Stefani Weiss eine Mitarbeiterin der Bertelsmann-Stiftung vertreten, die dort für den Themenbereich „Europas Zukunft“ zuständig ist und zugleich als Assistentin der Geschäftsführung der deutschen Atlantik-Brücke fungiert. Mit Walter Posch hat im April 2012 erstmals ein Mitarbeiter der vom deutschen Bundeskanzleramt finanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) einen Beitrag für die Group on Grand Strategy publiziert.
Deutschland: „Terrestrische Macht“
Deutschland wird in den Veröffentlichungen der Group on Grand Strategy ausdrücklich als „terrestrische Macht“ („Landmacht“) eingestuft, die bis heute „beharrlich“ an der „Bismarck’schen Landstrategie“ festhalte.[4] Diese auf kontinentalen Einflussgewinn zielende Strategie berge jedoch auch für die „Seemächte“ Großbritannien und Frankreich Gefahren, heißt es: Es könne in Zukunft zur Bildung einer „deutsch-russischen Achse“ kommen, warnt der Group on Grand Strategy-Stratege Luis Simón, ein einstiger Fellow der Volkswagen-Stiftung. „Für den Moment“ jedoch halte Deutschland an der EU fest. Simón ergänzt aber, die „britisch-amerikanische Macht“ in der Ostsee – gemeint ist die teilweise enge Kooperation der baltischen Staaten und Polens mit den USA und Großbritannien – hindere eine weitere deutsch-russische Annäherung. Ihm zufolge wird Großbritannien in den nächsten Jahren seinen Einfluss in Osteuropa noch weiter ausbauen, um eine Annäherung zwischen Berlin und Moskau zu erschweren.[5] Tatsächlich etwa sind seit dem Jahr 2000 britische Soldaten dauerhaft in der Tschechischen Republik stationiert und haben dort im Jahr 2010 das größte Land-Luft-Manöver des Vereinigten Königreichs durchgeführt. James Rogers ergänzt, eine Abkehr Deutschlands von der „atlantischen Allianz“ werde die Rivalität zwischen Berlin und London wieder beleben; „die Geschichte zeigt, dass dann wenig Gutes folgt.“[6]
Georgien
Rogers, publizistischer Protagonist der Group on Grand Strategy, identifiziert zwei Länder als Standorte künftiger EU-Militärstützpunkte, in denen Deutschland sich bereits jetzt um intensiven Einfluss bemüht. Bei einem davon handelt es sich um Georgien, ein Land, das wegen seiner Lage im Transportkorridor zwischen Zentralasien und Europa sowie wegen seiner Grenze zum instabilen Süden Russlands geostrategisch von erheblicher Bedeutung ist. In Georgien ist die EU mit der European Union Monitoring Mission (EUMM) präsent, die die ersten drei Jahre (2008 bis 2011) von dem deutschen Diplomaten Hansjörg Haber geleitet wurde. An dem Einsatz sind 20 deutsche Bundespolizisten sowie eine ungefähr gleich große Anzahl Zivilisten beteiligt, darunter Offiziere der Bundeswehr außer Dienst. Der EU-Truppe ist wiederholt vorgeworfen worden, in den kaukasischen Konflikten nicht neutral zu sein. Die Bundeswehr arbeitet darüber hinaus auch unmittelbar mit Georgien zusammen und bildet regelmäßig georgische Offiziere aus. Im Land selbst haben Großbritannien und die USA Militärberater stationiert.
Kaspisches Meer
Als Standort für eine weitere EU-Militärbasis ist laut den „Großraum“-Strategen Turkmenistan vorgesehen. Das Land, das über immense Erdgasvorräte verfügt, kooperiert auf dem Energiesektor recht eng mit China, hat in letzter Zeit aber immer wieder auch Annäherungen an EU und NATO vollzogen. So nahm Staatspräsident Gurbanguly Berdimuhamedov 2008 an einem NATO-Gipfel teil. Letztes Jahr besuchten NATO-Vertreter die turkmenische Hauptstadt Aschgabad. Der dortige Flughafen wird seit Jahren als Transport-Hub für Treibstofflieferungen an die westlichen Besatzungstruppen in Afghanistan genutzt. Dieses Jahr wurde bekannt, dass Turkmenistan von der Türkei Patrouillenboote erwerben wird und beabsichtigt, eine neue Marinebasis am Kaspischen Meer zu bauen. Die US-Marine hat im Jahr 2007 eine geheime Kooperation mit ihrem turkmenischen Pendant aufgenommen. Auch Deutschland bemüht sich um stärkeren Einfluss, wenngleich vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet. Im Jahr 2011 haben Siemens und Mercedes-Benz größere Aufträge in Turkmenistan erhalten. Die Bundesrepublik gehört zu den wichtigsten Entwicklungshilfegebern des Landes. Bei einem Besuch des deutschen Außenministers Westerwelle im November 2011 einigten sich dieser und der turkmenische Diktator Berdimuhamedov auf den Ausbau der bilateralen Beziehungen in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft.
Carl Schmitt
Den Begriff des „Großraums“, den die Group on Grand Strategy nutzt, hat einst der „Kronjurist des Dritten Reiches“, Carl Schmitt, in seinem 1939 veröffentlichten Buch „Völkerrechtliche Großraumordnung und Interventionsverbot für raumfremde Mächte – Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht“ stark gemacht.[7] Schmitt postulierte darin den „Grundsatz der Nichteinmischung raumfremder Mächte als geltendes Prinzip des heutigen Völkerrechts“; dies sollte Deutschland den alleinigen Zugriff auf sämtliche Länder Europas sichern. Als Beispiel für die erfolgreiche Umsetzung seiner Großraumtheorie führte Schmitt Rumänien an, das – wie Kritiker anführen – unter „Preisgabe seiner Naturreichtümer und volkswirtschaftlichen Substanz“ [8] in die deutsche „Großraum“-Ordnung eingegliedert wurde. Eine solche Preisgabe ihrer Reichtümer an Deutschland und die EU wird offenkundig auch von den Staaten im „Großraum“ der Group on Grand Strategy verlangt.
[1] James Rogers: A New Geography of European Power?, Brüssel 2011
[2] s. dazu
Europas Abstieg (II),
Europas Abstieg (III) und
Das pazifische Jahrhundert
[3] Group on Grand Strategy: Manifesto, grandstrategy.eu.
[4] James Rogers; Luis Simón: Three geographies – and societies: The European Union’s enduring problem, Group on Grand Strategy – Strategic Snapshot Nr. 2, 01.12.2011
[5] Luis Simón: Britain-France: a new agency for the neo-West? europeangeostrategy.ideasoneurope.eu 20.02.2012
[6] „Britain will never accept German leadership“; europeangeostrategy.ideasoneurope.eu 19.01.2012
[7] Carl Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte – Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, Berlin 1991
[8] Dietrich Eichholtz: Brüchiges Bündnis; junge Welt 22.04.2010
german-foreign-policy.com, 26.07.2012