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David X. Noack

Kritische Perspektiven auf Geschichte und internationale Politik

Bekannter unbekannter Balkan (II)

Zweiter Teil der Reisereportage über Serbien und Bosnien-Herzegowina

Geschichte ist in Europa allgegenwärtig. Doch was für den ganzen Kontinent gilt, trifft so für den Balkan, viel mehr noch für Ex-Jugoslawien auf ganz besondere Weise zu – zumal viele Wunden noch nicht geschlossen und einige sehr frisch sind. David Noack begab sich auf eine kurze Reise durch Serbien und Bosnien-Herzegowina und gewährt uns Einblicke in eine zerrissene Region und eine, die zerrissen wurde. Hier der erste Teil der Reportage – die Redaktion.

Am vierten Tag fahren wir nach Kragujevac. Es ist ein Ort, der im Zweiten Weltkrieg Schauplatz eines besonders grausamen Verbrechens war und in dem deswegen die zentrale Gedenkstätte Jugoslawiens für die Zeit der faschistischen Besatzung und Teilung errichtet wurde. Genau Am 21. Oktober 1941 wurde, als Reaktion auf die erfolgreiche Einkesselung einer Infanteriedivision der Deutschen im nahegelegenen Kraljevo und das Aufreiben dieses Verbandes, ein Massaker verübt.

Der deutsche „Bevollmächtigte Kommandierende General in Serbien“ Franz Böhme hatte das Kommando ausgegeben, dass für jeden getöteten deutschen Soldaten 100 Zivilisten ermordet werden sollten, für jeden Verletzen 50. Nach der erfolgreichen Aktion der Partisanen sollte nun in großem Umfang „gesühnt“ werden. Etwa 7.000 bis 8.000 Menschen, unter anderem ganze Schulklassen aus dem örtlichen Gymnasium, starben durch Massenerschießungen.

Die Gedenkstätte besteht aus mehreren unterschiedlich hohen Türmen mit jeweils quadratischem Grundriss. Die Decken bilden in jedem Turm Glasfenster. Als 1999 die NATO die nahegelegenen Zastava-Werke bombardierte, sind 26 der 33 Kuppelfenster durch die Erschütterungen zerborsten. Nach der NATO-Aggression finanzierte die deutsche Botschaft neue Glaskuppeln. Doch die sind fehlerhaft – es regnet hinein.

Am Abend treffen wir in der 80.000 Einwohner zählenden Stadt Užice ein. Die Bevölkerung der Stadt und des nahen Umlandes hatte es 1941 geschafft, sich kurzzeitig selbst von den deutschen Besatzern zu befreien und eine Partisanenrepublik errichtet. Die „Republik Užice“ umfasste insgesamt 2.000 Quadratkilometer und 300.000 Einwohner. Doch sie konnte sich nicht lange halten. Mit Hilfe königstreuer Tschetniks, die hier auf Seiten des faschistischen Marionettenregimes kämpften, drangen die deutschen Besatzer auf Užice vor. Einfache Arbeiter ohne militärische Erfahrung marschierten in „proletarischen Hundertschaften“ los und versuchten die Deutschen zu stellen, damit die erfahreneren Partisanen unter Marschall Tito sich in die Berge im Süden zurückziehen können. Als besondere Ehrung für diese heldenhafte Tat hieß die Stadt in jugoslawischen Zeiten „Titovo Užice“. Das große Tito-Denkmal, einst auf dem Hauptplatz der Innenstadt aufgestellt, ist heute schamhaft auf den Hinterhof des Nationalmuseums verbannt.

Am folgenden Tag überqueren wir die Grenze zu Bosnien und Herzegowina, gelangen zunächst in den serbischen Teil des Staates. Mir fällt sofort die serbische Beflaggung an Straßen und Häusern auf, denn zunächst durchqueren wir die „Republika Srpska“. In Visegrad erwartet uns ein UNESCO-Weltkulturerbstück. Ivo Andric, einziger jugoslawischer Literatur-Nobelpreisträger (1961), beschrieb in seinem berühmtesten Werk „Die Brücke über die Drina“ die Geschichte dieses osmanischen Bauwerks.

Nach einer langen Busfahrt durch eine beeindruckende Berglandschaft kommen wir in Sarajevo an. Die muslimisch geprägte Stadt ist die Hauptstadt des Teilstaates Föderation Bosnien und Herzegowina und des Gesamtstaates. Nach dem Dayton-Friedensvertrag wurde der Staat im Jahre 1995 zweigeteilt. Ein Teil ist die Republika Srpska, die 49 Prozent des Territoriums ausmacht – obwohl die bereits im Bürgerkrieg ausgerufene Republik Kleinserbien, wie sie auf Deutsch heißt, vor Beendigung des Krieges 70 Prozent kontrolliert hatte. Die Föderation – der zweite Teil des Gesamtstaates – umfasst 51 Prozent des Staatsgebietes. Sie ist vor allem bosniakisch [1] und kroatisch geprägt.

In Sarajevo besichtigen wir die alte Nationalbibliothek, die im Bürgerkrieg nach Granatenbeschuss durch die Armee der Republika Srpska ausbrannte – 2,5 Millionen Bände wurden vernichtet, darunter auch unersetzbare Texte. Die bosnischen Serben hatten während des gesamten Bürgerkrieges (1992-1995) die Stadt, die in einem Talkessel liegt, belagert – insgesamt 1.425 Tage lang. Lediglich ein Tunnel verband die Hauptstadt mit den bosnisch kontrollierten Gebieten. An dem äußeren Ende des Tunnels befindet sich heute ein privates Museum, das sich vor allem ausländische Gäste anschauen.

Ein Tagesausflug bringt uns nach Mostar. Die Zerstörung der weltberühmten Brücke aus osmanischer Zeit wurde zum Symbol des Konfliktes zwischen Bosniaken und Kroaten im Bürgerkrieg. Neun Monate war die Stadt durch kroatische Kräfte belagert worden, bevor die Alte Brücke („Stari Most“) gezielt zerstört wurde. Das Bauwerk verbindet heute wieder den kroatischen Westteil mit dem bosniakischen Ostteil der Stadt. In den einzelnen Stadtteilen wird klar, dass in diesem Land mehrere Völker mehr aneinander vorbei, als miteinander leben. West-Mostar wird von kroatischen Nationalisten sogar als mögliche Hauptstadt einer noch zu gründenden Republika Hrvatska (Kleinkroatien – als Gegenstück zur Republika Srpska) gesehen.

In den Straßencafés läuft das Staatsfernsehen des kroatischen Nachbarlandes – man schaut hier keine bosnischen Sender. Der Einfluss Zagrebs geht soweit, dass im bosniakischen Teil Mostars der Eintritt zu muslimischen Gotteshäusern in Kuna, der Währung Kroatiens, bezahlt werden kann. In Ost-Mostar hingegen, auf der anderen Seite des Flusses Neretva, sieht man vor allem den türkischen Einfluss – von Banken bis hin zu Konsulaten oder anderen Institutionen. Die Bosniaken sehen die osmanische Herrschaft ihres Landes, die bis zum Berliner Vertrag von 1878 andauerte, nicht als Fremdbestimmung, sondern als die „gute alte Zeit“. Die wieder aufgebaute „Alte Brücke“ wurde 2004 feierlich eingeweiht, doch die ethnischen Gräben in der Stadt bestehen weiterhin.

Unsere Stadtführerin, eine Deutschlehrerin aus Mostar, erzählt uns, dass das einzige, was die „Internationalen“ vollbringen – wie die Besatzungsmacht EUFOR von den Einheimischen genannt wird – die Hilfe bei der Bekämpfung von Waldbränden sei. Dafür sei man ihnen sehr dankbar, denn Mostar ist die Stadt mit den höchsten Temperaturen in Bosnien und Herzegowina.

Auf der Rückreise nach Belgrad halten wir in Tuzla, wo seit Jahrhunderten Salz gefördert wird und dessen Stadtname sich vom türkischen Wort für das Mineral ableitet. Der streng sunnitische König Fahd von Saudi-Arabien hat Tuzla eine Moschee geschenkt. Doch den Versuchen von radikalen Islam-Strömungen auf dem Balkan Fuß zu fassen, begegnen viele Bosniaken mit Misstrauen. Man sieht sich zwar als Teil der islamischen Welt, jedoch sind die bosniakischen Muslime sehr weltlich geprägt.

[1] Im Gegensatz zu anderen Bevölkerungsgruppen werden die Bosnischen Muslime heutzutage meist als „Bosniaken“ bezeichnet – Anm. d. Red.

Neue Rheinische Zeitung, 28. Oktober 2009

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