»Wer die Freiheit aufgibt um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.« — Benjamin Franklin
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David X. Noack

Kritische Perspektiven auf Geschichte und internationale Politik

Fünf Jahre Kollaps

Fünf Jahre nach dem von Berlin forcierten prowestlichen Umsturz in Kiew („Maidan-Revolution“) am 22. Februar 2014 schreitet der ökonomische und soziale Zusammenbruch der Ukraine immer weiter voran. Die Wirtschaft des Landes ist kollabiert; Export und Import stürzten von 2013 bis 2017 um rund ein Drittel ab. Die Industrie liegt am Boden; die Deindustrialisierung des Landes verfestigt sich. Erstmals in der Geschichte der unabhängigen Ukraine sind landwirtschaftliche Produkte zum Hauptexportgut des Landes geworden, das damit seinen Status als peripheres Land am Rand der EU – und in Abhängigkeit von ihr – dokumentiert. Darüber hinaus ist die Ukraine mittlerweile zum ärmsten Land Europas abgestiegen; auch das Gesundheitswesen ist kollabiert. Aufschwung hat lediglich die extreme Rechte. Den Einfluss ultrarechter Milizen vergleichen Experten inzwischen mit ähnlichen Phänomenen in Lateinamerika und in Afrika. Wie selbst offizielle Stellen in der Ukraine einräumen müssen, verlassen inzwischen jährlich eine Million Menschen wegen der katastrophalen Entwicklung das Land.

Umsturz

Am 22. Februar 2014 vollzog das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada (Oberster Rat), mit der Absetzung von Präsident Wiktor Janukowitsch den von USA und EU lange angestrebten Umsturz, der in der ukrainischen Hauptstadt prowestlichen Kräften den Weg an die Macht bahnte. Am Tag zuvor hatte der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) einen Kompromiss zwischen Janukowitsch und der prowestlichen Opposition vermittelt; dieser wurde jedoch noch am selben Tag hinfällig, als bewaffnete Maidan-Demonstranten drohten, den Präsidentenpalast zu stürmen. Janukowitsch floh noch am Abend des 21. Februar, als die Demonstranten bereits das Regierungsviertel und das Parlament gestürmt hatten; tags drauf eroberten Bewaffnete auch noch den Präsidentenpalast, darunter Anhänger der faschistischen Miliz UNA-UNSO, die damals bereits auf 25 Jahre Kampferfahrung in diversen postsowjetischen Konflikten zurückblicken konnte. Liberale, Konservative und Faschisten (UDAR, Vaterlandspartei und Swoboda) bildeten eine neue Koalition und wählten einen Übergangspräsidenten; die stark an Russland orientierte Kommunistische Partei dagegen, die zeitweise die stärkste Fraktion in der Rada gestellt hatte, wurde unter Druck gesetzt, musste im Mai 2014 ihre Fraktionsarbeit einstellen [1] und wurde später verboten.

Ungebrochene Oligarchenherrschaft

Ein entscheidender Einflussfaktor im politischen Kräftefeld der Ukraine sind auch nach dem von Berlin befeuerten Umsturz die Oligarchen der Ukraine geblieben. Außenminister Steinmeier traf sich schon kurz nach dem Umsturz sogar persönlich mit einzelnen Oligarchen, auch wenn diese offiziell keine Ämter innehatten.[2] Laut Experten des Think-Tanks „Carnegie Europe“ gingen die neuen Machthaber in Kiew dann ihrerseits „eine taktische Allianz“ mit dem Oligarchensystem ein [3] – unter Führung von Präsident Petro Poroschenko, seinerseits ein Oligarch. Auch bei den anstehenden Wahlen wird sich daran wenig ändern: Wolodymyr Selenskyj, der laut aktuellen Umfragen in Führung liegende Favorit, hat laut der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung eine „verdächtige Nähe zum Oligarchen [Igor] Kolomojskyj“.[4]

Zusammenbruch der Wirtschaft

Ökonomisch ist die Ukraine nach dem Umsturz im Verlauf jahrelanger neoliberaler Reformen unter Präsident Poroschenko, in dessen Wahlblock die von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung mitaufgebaute Partei UDAR aufgegangen ist [5], katastrophal eingebrochen. Nach Erkenntissen des Internationalen Währungsfonds aus dem Jahr 2018 ist die Ukraine heute das ärmste Land Europas – noch hinter dem langjährigen Schlusslicht, der mit der Ukraine benachbarten Republik Moldau.[6] Laut Angaben der Weltbank stieg die Zahl der Menschen in der Ukraine, die unterhalb der offiziellen Armutsschwelle leben, von 15 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2014 auf 25 Prozent im Jahr 2018.[7] Den ukrainischen Wirtschaftskurs, der zu einer massiven Verelendung führt, unterstützt unter anderem das „Institute for Economic Research and Policy Consulting“ (IER), eines der führenden Wirtschaftsinstitute des Landes.[8] Das IER wurde 1999 von der Bundesrepublik Deutschland mitgegründet und jahrelang komplett aus Berlin bezahlt.[9] Zusätzlich zu dem wirtschaftsliberalen Kurs haben das Freihandels- und Assoziationsabkommen mit der EU (DCFTA), der Bürgerkrieg im Donbass sowie die politische Konfrontation mit Russland einschneidende Auswirkungen auf die ukrainische Wirtschaft gehabt. Industriebetriebe mussten reihenweise schließen; die Deindustrialisierung des Landes schreitet immer weiter voran.

Ein peripherer Staat

Nicht zuletzt deshalb sind die Exporte der Ukraine dramatisch eingebrochen. Von 2013 bis 2017 fielen die Ausfuhren um 31 Prozent, die Importe sogar um 35 Prozent. Besonders traf es den industriellen Sektor: Der Wert der Exporte der stahlverarbeitenden Industrie stürzte von 21,2 Milliarden US-Dollar auf 12,7 Milliarden US-Dollar ab. Auch im Maschinenbau halbierte sich der Export und kollabierte von 10,1 Milliarden US-Dollar auf 4,9 Milliarden US-Dollar.[10] Zum ersten Mal in der Geschichte der unabhängigen Ukraine waren im Jahr 2017 landwirtschaftliche Produkte das Hauptexportgut des Landes.[11] Damit wurde die Ukraine zu einem peripheren Staat – ähnlich vielen Ländern im subsaharischen Afrika und in Lateinamerika.

Agrarlieferant der EU

Mit der Deindustrialisierung geht eine Neujustierung des Außenhandels einher. Bis zum Jahr 2013 teilte sich der ukrainische Export fast gleichmäßig zwischen der EU, den postsowjetischen Staaten und dem Globalen Süden auf. Nach dem gewaltsamen Umsturz vom Februar 2014 ging der Ost- und der Südhandel dramatisch zurück; die Europäische Union wurde im Außenhandel des Landes immer dominanter. Die ukrainischen Produkte, die dort einen Absatzmarkt finden, unterscheiden sich aber grundlegend von den Produkten, welche die Ukraine in den Osten und in den Süden exportierte. Hauptsächlich führt sie nämlich wenig oder gar nicht verarbeitete Produkte in die EU aus. Den größten Anstieg von 2013 bis 2017 verzeichneten beispielsweise die ukrainischen Fett- und Ölexporte in die EU – sie stiegen um 195 Prozent an.[12] Im Zusammenhang mit dem Export von Ressourcen wird auch die illegale Ausfuhr von Naturrohstoffen immer bedeutender. Nach zwei Jahren Recherche hat die britische Nichtregierungsorganisation „Earthsight“ im Juli 2018 eine Studie präsentiert, wonach in der Ukraine 40 Prozent der gefällten Bäume illegal geschlagen werden. Korrupte Beamte deklarieren anschließend die Holzsorten falsch und exportieren sie in die EU – mit dem Wissen der EU-Holzproduzenten. Rund 70 Prozent der ukrainischen Holzexporte gehen in die Europäische Union. Der Umsatz beträgt eine Milliarde Euro pro Jahr.[13]

Zusammenbruch des Gesundheitswesens

Kollabiert ist in der prowestlich gewendeten Ukraine nicht zuletzt das Gesundheitswesen. Im Jahr 2018 traten zum Beispiel 65 Prozent aller gemeldeten Neuausbrüche von Masern auf dem gesamten europäischen Kontinent in der Ukraine auf.[14] Darüber hinaus hat das Land die zweitschwerste AIDS-Epidemie Europas: Von 2010 bis 2016 hat sich die Zahl der mit dem HI-Virus infizierten Menschen im Land verdoppelt.[15]

Die Rechte marschiert

Politisch hat von dem Umsturz die äußerste Rechte profitiert. Auch wenn die faschistischen Parteien der Ukraine im Parlament derzeit keinen größeren Einfluss haben, können Organisationen der extremen Rechten außerordentlich viele Menschen zu politischen Schlüsseldaten mobilisieren – bedeutend mehr als die Liberalen und Konservativen. Eines dieser Schlüsseldaten ist der Geburtstag des NS-Kollaborateurs Stepan Bandera, an den regelmäßig mit großen Demonstrationen erinnert wird. Das gegenwärtige politische System des Landes mit bewaffneten Milizen, die ein bedeutender politischer Faktor sind, ähnelt laut dem ukrainischen Soziologen Wolodymyr Ischtschenko, dem stellvertretenden Direktor des Zentrums für Gesellschaftsforschung in Kiew, der „Situation in Lateinamerika oder dem subsaharischen Afrika“.[16]

Auf der Flucht

In Reaktion auf die desaströse wirtschaftliche Lage, das politische Klima und die allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen in der Ukraine emigrieren mittlerweile immer mehr Menschen. Wie der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin im September 2018 einräumte, verlassen jedes Jahr rund eine Million Menschen das Land. „Die Lage ist katastrophal“, erklärte der seit 2014 amtierende Politiker dem ukrainischen Fernsehsender „Nastojaschaja Wremja“ („Unsere Zeit“) und ergänzte: „Dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren fortsetzen“.[17]

Deutsche Berater

Dessen ungeachtet halten die regierenden ukrainischen Parteien – und die deutschen Berater in Kiew – an dem derzeitigen Kurs fest. Unter anderem sind in der ukrainischen Hauptstadt seit vielen Jahren etwa die Parteistiftungen von CDU, CSU, FDP, Grüne und SPD vertreten.[18] Im August 2018 hat der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) ein weiteres Büro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in dem Land eröffnet. Dabei erinnerte er daran, „dass es weltweit nur sehr wenige Länder gibt, in denen die KAS mit zwei Auslandsbüros vor Ort vertreten“ ist.[19]

Auswirkungen bis Ostasien

Wie weitreichende Folgen der Umsturz in der Ukraine und der darauf folgende Kollaps der ukrainischen Industrie hatte, zeigt ein Beispiel aus Ostasien. Der staatliche Rüstungsbetrieb Juschmasch in Dnipro (früher: Dnepropetrovsk) entließ nach Beginn der Krise tausende Mitarbeiter; die Zahl der Angestellten sank auf ein Sechstel. Einige entlassene Wissenschaftler verkauften ihre Kenntnisse an Nordkorea; dies wiederum ermöglichte einen enormen Aufschwung des nordkoreanischen Raketenarsenals.[20] Die von der deutschen Regierung forcierte Entwicklung in der Ukraine hatte damit Auswirkungen, die bis auf die koreanische Halbinsel reichten; in einer Art „Kollateraleffekt“ trug sie zur Nordkoreakrise der Jahre 2017 und 2018 bei.

[1] David X. Noack: Die Ukraine-Krise 2013/2014 – Versuch einer historischen, politökonomischen und geopolitischen Erklärung, DSS-Arbeitspapiere, Heft 112 (2014), S. 41/42.
[2] S. dazu Die Restauration der Oligarchen (III).
[3] Wojciech Kono?czuk: Ukraine’s Omnipresent Oligarchs. carnegieeurope.eu 13.10.2016.
[4] Sergej Sumlenny: Wahlen in der Ukraine: Wer gegen wen? boell.de 20.02.2019.
[5] S. dazu Unser Mann in Kiew.
[6] IMF ranks Ukraine as Europe’s poorest country. intellinews.com 16.10.2018.
[7] More poor people in Ukraine now than five years ago – World Bank, ukrinform.net 18.07.2018.
[8] John Lough: Ukraine Must Focus More on Reducing Opportunities for Corruption. chathamhouse.org 18.07.2018.
[9] Ruth Berger: Ukraine: Umformung durch deutsche Experten. heise.de 28.04.2014.
[10], [11] S?awomir Matuszak: In Search of New Routes – Ukraine’s Foreign Trade After the Revolution of Dignity, OSW-Studie, S. 18.
[12] Matuszak: In Search of New Routes, S. 26.
[13] Bermet Talant: UK researchers, Ukraine officials face off over illegal timber exports to EU. kyivpost.com 09.11.2018.
[14] Oleksiy Sorokin: Measles outbreak: Ukraine accounts for 65 percent of newly reported cases in Europe in 2018. kyivpost.com 08.02.2019.
[15] Stephanie Lahrtz: Der Krieg in der Ukraine ist eine Brutstätte für HIV. nzz.ch 17.01.2018.
[16] Ukraine on the Brink – Interview mit Volodymyr Ishchenko. jacobinmag.com 27.01.2019.
[17] „Situazija katastrofischeskaja“: glawa MID Ukraini rasskasal, schto kaschdi god iz strani uezschajet million ukrainzew. currenttime.tv 04.09.2018.
[18] Experts launch report on the work of foreign benefactors in Ukraine. en.interfax.com.ua 28.11.2018.
[19] Zweites Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Ukraine eröffnet. kas.de 23.08.2018.
[20] Simon Shuster: How North Korea Built a Nuclear Arsenal on the Ashes of the Soviet Union. time.com 01.02.2018. Elizabeth Shim: Report: North Korea rocket engine includes Ukrainian technology. upi.com 16.03.2018.

Erschienen auf german-foreign-policy.com, 22.02.2019.
Artikel bei GFP erscheinen im Rahmen einer Redaktionsarbeit und sind nicht als Autorenartikel zu sehen.

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  1. “Belarus’ Platz in Europa” | David X. Noack:

    […] Dirk Wiese anlässlich seiner Reise nach Belarus. auswaertiges-amt.de 04.12.2019. [14] S. dazu Fünf Jahre Kollaps. [15] Grigory Ioffe: Vladimir Makei: Belarus Wants to Become East European Switzerland. […]

    --26. August 2020 @ 07:02

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