»Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.« — Václav Havel
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David X. Noack

Kritische Perspektiven auf Geschichte und internationale Politik

An der Schwelle zum Krieg

Vor 100 Jahren begannen die Briten mit Kriegsvorbereitungen gegen die Sowjets im Schwarzmeerraum – Grundlage waren die Falschinterpretation von Geheimdiensterkenntnissen und imperiale Paranoia

Vor einhundert Jahren stiegen die Spannungen zwischen türkisch-nationalistischen Truppen und der britischen Besatzungsmacht in Konstantinopel und an den Dardanellen. Auf britischer Seite begannen damals deswegen Planungen für einen Krieg – gegen Sowjetrussland und die Sowjetukraine. Aufgrund von imperialer Paranoia, der Fehldeutung von Aufklärungsergebnissen und einem tief verwurzelten Antikommunismus begannen die Briten mit Kriegsplänen gegen den falschen Gegner. Doch Risse zwischen den verschiedenen Entente-Mächten und innerhalb des Empires sorgten dafür, dass es in der sogenannten Chanak-Krise nicht zum Showdown kam und die britischen Truppen abgezogen wurden.

Britanniens Pläne

Für das Osmanische Reich zeichnete sich das Ende des 1914 von den Deutschen begonnenen Ersten Weltkrieges mit dem Waffenstillstandsabkommen von Thessaloniki am 29. September 1918 ab. Darin hatte die damalige bulgarische Regierung zugestimmt, aus dem Krieg auszuscheren und die deutschen sowie die österreichisch-ungarischen Truppen des Landes zu verweisen. Bulgarien hatte ab 1915 auf der Seite der Mittelmächte gekämpft und etwa 300.000 Entente-Soldaten an der Makedonien-Front gebunden.¹ Mit dem Ausscheren Bulgariens verlor die Regierung in Konstantinopel ihre Landbrücke zu den übrigen Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn. Vier Wochen später schied auch das Osmanische Reich mit dem Waffenstillstandsabkommen von Moudros aus dem Konflikt aus. Truppen aus den Entente-Staaten Frankreich, Großbritannien, Griechenland und Italien besetzten daraufhin bei Chanak (Canakkale) die Meerenge der Dardanellen und die osmanische Hauptstadt Konstantinopel. Aus Japan sowie den alliierten USA kamen darüber hinaus Militärbeobachter in die besetzte Stadt.² Die griechische Armee okkupierte zusätzlich noch die Stadt Smyrna, das heutige Izmir. Der Völkerbund sollte später über die Zukunft der Smyrna-Zone entscheiden.

In Konstantinopel blieb das religiöse Oberhaupt, Kalif Mehmed VI., im Amt, und die maßgeblichen osmanischen Politiker der Zeit des Ersten Weltkriegs und des Völkermords an den Armeniern – Kriegsminister Enver Pascha, Innenminister Talat Pascha und Marineminister Cemal Pascha – flohen mit den deutschen Truppen über das Schwarze Meer nach Deutschland. Den Bruch mit den vormaligen Machthabern signalisierten die Kriegsverbrecherprozesse ab 1919: Die osmanische Regierung in Konstantinopel begann mit den sogenannten Istanbul-Prozessen gegen die osmanischen Kriegsverbrecher der Weltkriegszeit. Die Gerichte verurteilten einige osmanische Funktionäre wie beispielsweise Mehmed Kemal, den vormaligen Gouverneur der zentralanatolischen Provinz Bogazliyan, vor Ort und diverse Verbrecher »in absentia«.³ Der britische Hochkommissar für Konstantinopel, John de Robeck (1862–1928), ordnete 1920 an, die Kriegsverbrecherprozesse zu beenden, da seiner Meinung nach Urteile in Abwesenheit keinen Sinn ergaben.

Die Besatzung Konstantinopels bildete einen entscheidenden Baustein der britischen Nachkriegsplanungen in der Region. Am Schwarzen Meer sollte es mit Batumi und Konstantinopel zwei internationale Zonen geben, in denen unter anderem britische Truppen den Freihandel abzusichern hatten. Der britische Hardliner Lord Curzon, 1899 bis 1905 Vizekönig von Indien und dann von 1919 bis 1924 britischer Außenminister, sah eine Präsenz im Kaukasus als westlichsten Vorposten zur Verteidigung Britisch-Indiens, der damals wichtigsten Kolonie des Vereinigten Königreiches.4 Um Batumi zu erreichen und gegebenenfalls die unabhängigen Staaten Armenien, Aserbaidschan und Georgien zu versorgen, brauchten die Briten aber die Passage durch die Dardanellen und den Bosporus.

Türkische Gegenwehr

Gegen die britischen Planungen in der Region organisierte sich Widerstand. Im Nationaleid (Misak-i Milli), dem politischen Manifest der türkischen Unabhängigkeitsbewegung, beschworen nationalistische Abgeordnete des letzten osmanischen Parlaments jene Territorien, die sie der Türkei als zugehörig betrachteten. Im März 1920 kündigte der im Osmanisch-Italienischen Krieg (1911/1912), in den Balkankriegen (1912/1913) und bei der Verteidigung von Gallipoli (1915) bekannt gewordene türkische General Mustafa Kemal an, dass im zentralanatolischen Angora, dem heutigen Ankara, eine Nationalversammlung zusammentreten werde. Aus deren Zusammenkunft ging dann im April desselben Jahres die provisorische Regierung der Großen Nationalversammlung hervor – die Republik wurde einstweilen noch nicht ausgerufen. Ab dem Februar 1921 trug das Parlament dann den Namen Große Nationalversammlung der Türkei (RGNT).

Londons Pläne für den Kaukasus – einzelne Minister hatten unterschiedliche Vorstellungen – scheiterten bereits im Sommer 1920. Die britische Regierung zog die in Batumi stationierte Garnison ab und übergab das Gebiet an das damals noch unabhängige Georgien.5 Zwar hatten die Regierungen Armeniens und Aserbaidschans ebenso Anspruch auf das muslimische Adscharien um Batumi herum erhoben, doch letztlich entschied man sich in London für Georgien. Der Rückzug aus der Stadt sollte die erste britische Niederlage in der Region sein – es folgten noch viele weitere.

Zunächst unterzeichneten im August 1920 Vertreter der osmanischen Regierung sowie der Regierungen der Entente-Mächte den Friedensvertrag von Sèvres. Dieser sah vor, dass das vormalige Konstantinopler Großreich die Gebiete Mesopotamiens (des heutigen Iraks) sowie Jordaniens und Palästinas an Großbritannien als Mandatsgebiete des Völkerbundes abzutreten hatte, Frankreich erhielt Großsyrien inklusive des Libanon, und im Gebiet der heiligen Stätten des Islams auf der Arabischen Halbinsel entstand das mit den Briten verbündete Königreich Hedschas. Das im Zuge der Oktoberrevolution unabhängig gewordene Armenien sollte mit einem breiten Küstenstreifen entlang von Trabzon einen Zugang zum Schwarzen Meer erhalten – das sogenannte Westarmenien. Griechenland wiederum erhielt Adrianopel (Edirne, bis dahin die letzte osmanische Stadt in Europa) und ebenso einen Zugang zum Schwarzen Meer – weswegen für ein paar Jahre die vormalige Mittelmacht Bulgarien nicht mehr an die Türkei grenzte. Um die Dardanellen und den Bosporus entstand eine internationale Zone, und Smyrna wurde griechisch – somit verlor das Osmanische Reich einen Großteil der Ägäisküste. Als einziges Gebiet mit Zugang zur Ägäis blieb die Küstenregion vor dem Dodekanes osmanisch, die Inselgruppe selbst fiel aber als Kolonie – die Italienischen Ägäisinseln – an Italien.

Kemalisten stoßen vor

Türkische Nationalisten wie Mustafa Kemal lehnten den Vertrag von Sèvres ab. Die in Angora gebildete provisorische Regierung der Großen Nationalversammlung der Türkei begann außerdem Ende 1920 damit, eigene internationale Beziehungen aufzubauen: Der Friedensvertrag von Alexandropol (heute Gjumri in Nordarmenien) beendete am 2. Dezember 1920 den Türkisch-Armenischen Krieg. Durch diesen Vertrag verlor Armenien die Hälfte seines Territoriums und hatte fortan keinen Zugang mehr zum Meer. Im sogenannten Bruderschaftsvertrag vom 16. März 1921 legten die sowjetrussische und die türkisch-nationalistische Regierung fest, dass alle Verträge des vormaligen Osmanischen Reiches mit dem Zarenreich null und nichtig seien. In der Frage der Ostgrenze der Türkei einigten sich die Regierungen in Angora und Moskau auf eine Linie bis kurz vor Batumi. Im zunächst geheimgehaltenen Franklin-Bouillon-Abkommen wiederum stimmten darüber hinaus französische und RGNT-Vertreter einem Ende der Kampfhandlungen in Kilikien nördlich von Syrien zu. Ein halbes Jahr nach dem Vertrag von Sèvres hatten die türkischen Nationalisten somit bereits das türkische Gebiet um mehr als die Hälfte vergrößert – zu Lasten Armeniens und Großsyriens.

Während die Ostgrenzen des türkischen Gebietes fortan feststanden, blieb zunächst noch unklar, wie weit die Türkei im Westen nach Anatolien – oder sogar nach Thrakien – reichen würde. Die Briten setzten dabei vor allem auf die Griechen, deren Staatsgebiet sich infolge der Balkankriege und der Regelungen unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges enorm vergrößert hatte. Der mit der Landung in Smyrna im Mai 1919 begonnene Griechisch-Türkische Krieg erreichte im Sommer 1921 seinen Wendepunkt.6 Die Truppen Athens mussten damals im westanatolischen Inönü eine entscheidende Niederlage hinnehmen. Die Historikerin Camilla Dawletschin-Linder schreibt, dass die »Existenz der Republik Türkei« unter anderem auf die Siege in den zwei Schlachten in Inönü gründete.7 Die türkischen Nationalisten schienen fortan auf dem Vormarsch.

Trotz angespannter Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg und sogar teilweise im Verlauf dieses globalen Konflikts konnten die türkischen Kemalisten auf einen besonderen Verbündeten setzen: Im Verlauf des Türkischen Unabhängigkeitskrieges unterstützte die bulgarische Regierung der nationalrevolutionären Bulgarischen Agrarischen Nationalen Union (BANU) von Aleksandar Stambolijski heimlich die RGNT, da man in Sofia hoffte, dass durch einen bewaffneten Kampf die Ordnung der Pariser Friedensverträge revidiert werden könne.8

Die türkischen Nationalisten pflegten gute Beziehungen zu Bulgarien, aber auch zur Sowjetukraine. Der Frieden von Riga im März 1921 hatte den Russischen Bürgerkrieg an der Nordküste des Schwarzen Meeres beendet und die Grenzen der Ukrainischen SSR – damals noch ein relativ eigenständig agierender Staat – festgelegt. Als Regierungschef der Ukrainischen SSR wiederum amtierte von Januar 1919 bis Juli 1923 der Bulgare Christian Rakowski. Lenin hatte jemanden für den Posten des Regierungschefs favorisiert, der weder Ukrainer noch Russe war.9 Die Sowjetukraine eröffnete eine diplomatische Vertretung in Angora. Nachdem der türkische Gesundheitsminister die sowjetukrainische Hauptstadt Charkow im Sommer 1922 besucht hatte, richtete die RGNT eine diplomatische Vertretung in der ostukrainischen Stadt ein.10

Sogar aus Zentralasien kam Unterstützung für die RGNT: Wie der britische Hochkommissar in Konstantinopel, Horace Rumbold, nach London meldete, empfing im Januar 1922 Mustafa Kemal eine bucharische Delegation. Die Bucharer überbrachten dem Politiker einen Koran als Geschenk und ein Schwert für den zukünftigen Eroberer der Ägäisstadt Smyrna.¹¹ Es blieb bei dieser Symbolpolitik.

Rote und grüne Furcht

Im Zentrum britischer Ängste hinsichtlich der türkischen Nationalisten standen aber weder die Sowjetukraine noch die Volksrepublik Buchara, sondern Sowjetrussland selbst. Im November 1920 hatte eine sowjetische diplomatische Vertretung in Angora ihre Arbeit aufgenommen. Die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik schickte Waffen, Geld und sogar Patrouillenboote an die RGNT. Die Regierung in Moskau wollte somit ein Wiederholung der Interventionskriege verhindern, die kaukasischen Außengrenzen sichern und die Entente-Mächte fernab der sowjetrussischen Grenzen binden.

Diese konkrete Unterstützung führte dazu, dass in London ganz phantastische Eindrücke entstanden, wie weit das Verhältnis zwischen Angora und Moskau gediehen sei. Im Frühjahr 1922 geisterte durch das britische Außenministerium die Angst vor einer »östlichen Entente«. Angeblich habe der sowjetische Außenbeziehungskommissar Georgi Tschitscherin die Idee gehabt, die Staaten Afghanistan, Angora-Türkei, Buchara, Chiwa, Persien und Sowjetrussland in einem Bündnis zusammenzuschließen, um einen Gegenblock zum aus der Entente hervorgegangenen Völkerbund zu bilden. Um einen solchen Militärblock aus der Taufe zu heben, seien bereits Abgesandte Bucharas, Chiwas und Afghanistan in Moskau eingetroffen. Auf der Tagesordnung habe demnach gestanden, mehrere Konferenzen anzuberaumen, um die konkrete Ausgestaltung des Militärbündnisses festzulegen.¹²

Bei Politik und Militär im Britischen ­Empire dürften diese angeblichen Planungen Erinnerungen an die sogenannten Seidenbriefe geweckt haben.¹³ Mit denen hatten im Ersten Weltkrieg muslimische Aktivisten aus Britisch-Indien versucht, ein antibritisches Staatenbündnis vom Hedschas über Iran bis nach Afghanistan zu vermitteln.14 Britisch-indische Behörden deckten die Verschwörung 1916 auf, und drei Jahre später erhielten die Briten Geheimdienstberichte, wonach deutsche oder russische Stellen hinter diesem Plan gestanden haben sollen.15 Unabhängig vom Wahrheitsgehalt solcher Berichte nährten entsprechende Meldungen die britische Angst vor muslimischen Verschwörungen. Konspirationen aus der islamischen Welt standen im Zentrum vieler imperialer Ängste von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.16

Bei den britischen Ängsten vor muslimischen Verschwörungen spielten Details des Glaubens der involvierten Personen (Sunniten oder Schiiten) genausowenig eine Rolle wie die konkrete politische Ausrichtung. In London unterschied man dabei nicht zwischen fundamentalistischen Wahhabiten auf der Arabischen Halbinsel, britisch-indischen Unabhängigkeitskämpfern muslimischen Glaubens und türkischen Kemalisten. Besonders akut wurden die Befürchtungen immer dann, wenn sich eine äußere Macht mit den muslimischen Verschwörern verbündete: Im Falle der Chanak-Krise (türkisch: Canakkale Krizi) glaubten britische Geheimdienstmitarbeiter, Militärs und Politiker, Verbindungen von den türkischen Nationalisten bis hin zur sowjetrussischen Indien-Politik ausmachen zu können.17

Fehlinformationen

Im britischen Fall führten Falschinterpretationen von Geheimdienstberichten und ein Kompetenzdurcheinander innerhalb des Empires zu Fehlkalkulationen. So gab es drei Geheimdienste, die diplomatische Depeschen abfingen – die Wireless Observation Group (WOG) des Heeres, den Geheimdienst SIS und die Codebrecher der GC&CS, des Vorläufers des heutigen GCHQ. Die WOG hatte einen Stützpunkt in Thessaloniki und versorgte vor allem den britischen Generalstab in Konstantinopel. Die Geheimdienstmitarbeiter in Bagdad konzentrierten sich auf sowjetrussische Kommunikation und erfuhren somit 1921 vom Franklin-Bouillon-Abkommen.18 Mit dieser Vereinbarung war die französische Regierung vom ehemaligen Entente-Partner Großbritannien abgerückt.

All diese Probleme der Briten kulminierten im Sommer 1922. Mit einer Übermacht in einem Verhältnis von drei zu eins griffen die türkisch-nationalistischen Truppen im August Afyon (heute Afyonkarahisar) im Westen Anatoliens an.19 Nach dem erfolgreichen Durchbruch stießen die RGNT-Truppen nach Smyrna vor. Die griechische Front brach quasi zusammen, und am 9. September gelang es den türkischen Nationalisten, Smyrna einzunehmen. Die Regierung in Angora kontrollierte fortan alle Territorien von der Ägäisküste bis an die Ostgrenze zu Iran. Die Hauptstadt des Osmanischen Reiches – welches de jure noch existierte – blieb aber von einer Streitmacht verschiedener Kolonialmächte sowie Griechenlands besetzt.

Die türkisch-nationalistische Regierung verlegte daraufhin Truppen in Richtung Dardanellen und Konstantinopel. Der britische Oberkommandeur in der Konstantinopel-Zone, Charles Harington, ging davon aus, dass die RGNT-Truppen in der Region circa 50.000 Mann umfassen würden. Tatsächlich hatte Mustafa Kemal rund 200.000 Mann in der Region konzentriert. Darüber hinaus zeigte sich Harington davon überzeugt, dass in einem Konfliktfalle Mustafa Kemal auf rund 40.000 Aufständische in Thrakien und Istanbul setzen könne.20 Die Lage am Bosporus spitzte sich zu.

In London versteiften sich die entscheidenden Personen jedoch auf den angeblichen Einfluss der Bolschewiki in der nationalistischen Türkei. Im Foreign Office ging man davon aus, dass die Sowjetrussen den türkischen Nationalisten U-Boote verkauft hätten und im Falle eines Krieges selbst gegen britische Schiffe vorgehen würden. Admiral Osmond Brock, der Oberbefehlshaber der britischen Mittelmeerflotte, wies an, dass im Konfliktfalle britische Schiffe sowjetrussische Transportschiffe im Schwarzen Meer übernehmen sollten – was ein Akt des Krieges gewesen wäre. Die entscheidenden britischen Akteure planten für den Fall eines türkisch-britischen Krieges einen Krieg gegen Sowjetrussland. Ins Bild passte dabei, dass der sowjetische Botschafter in Angora sich öffentlich zur Allianz zwischen Angora und Moskau bekannte, was der Geheimdienst SIS als weiteres Indiz für eine enge sowjetisch-türkische Zusammenarbeit wertete.²¹

Die britische Einschätzung stimmte allerdings überhaupt nicht. Bereits im Dezember 1920 hatte das ZK der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) beschlossen, den »Kemalisten nicht zu trauen« und auf sowjetfreundliche Elemente in Angora zu setzen.²² Im Frühjahr 1922 beschloss das ZK der KPR (B) den Stalin-Plan, um den türkischen Einfluss in Zentralasien zu verringern.²³ Während die Kemalisten die Kommunistische Partei der Türkei im Sommer 1922 verboten, zeigte sich in London der britische Außenminister George Curzon davon überzeugt, dass Mustafa Kemal »fest in der Hand der Bolschewiken« sei.24 Die Türken und die Sowjets drifteten voneinander weg, aber in London begann man mit Überfallplanungen auf sowjetrussische Schiffe im Kriegsfall.

Die Chanak-Krise

Französische und italienische Truppen verstärkten das britische Kontingent in Chanak (Canakkale) auf der asiatischen Seite der Dardanellen. Um die herannahenden türkisch-nationalistischen Truppen zum Einlenken zu bringen, setzte Harington auf Signale der Stärke. In London schrieb Kolonialminister Winston Churchill ein Pamphlet, in dem er für eine Eskalation plädierte, um die türkischen Eroberungen wieder gewaltsam rückgängig zu machen – selbst Außenminister Curzon zeigte sich erschrocken. Nachdem die Regierung in London in den Dominions nach Unterstützung angefragt hatte, zeigten sich nur Neufundland und Neuseeland bereit, Truppen zu schicken. Die kanadische Regierung verweigerte sogar offen jede Hilfe.25

Um wenigstens die Einheit der Entente-Großmächte zu bewahren, reiste Außenminister Curzon nach Paris. Als er dort eintraf, erfuhr er, dass die französische Regierung schon den Abzug aus der Internationalen Zone um Konstantinopel beschlossen hatte.26 Auf den französischen Rückzug folgte der italienische – die Regierungen in Paris und in Rom hatten bereits ihre Interessensphären und die Grenzen ihrer Kolonien mit den türkischen Nationalisten abgesteckt.

Am 1. Oktober 1922 begannen Verhandlungen in Mudanya, einem Luftkurort am Marmarameer. Zehn Tage später stand die Einigung, und die türkischen Nationalisten erhielten alles, was sie wollten – ohne dass ein einziger Schuss abgefeuert worden wäre.27 Die Briten zogen sich aus Konstantinopel und von den Dardanellen zurück. Die Griechen überließen sogar Ostthrakien und Adrianopel der Türkei. Der letzte osmanische Sultan verließ im November 1922 Konstantinopel und ging in die britische Kronkolonie Malta ins Exil. Entlang der neuen Grenzen zu Bulgarien und Griechenland entstanden entmilitarisierte Zonen. In Großbritannien hatte die Channak-Krise zur Folge, dass die Konservative Partei dem liberalen Premier David Lloyd George die weitere Unterstützung versagte, woraufhin die Regierung zerbrach und Lloyd George zurücktrat.

Im November 1922 schaffte die Nationalversammlung in Angora das Sultanat ab. Der Friedensvertrag von Lausanne erkannte die neuen türkischen Westgrenzen an und ersetzte den Vertrag von Sèvres. Am 29. Oktober 1923 erklärte die Nationalversammlung die Türkei zur Republik und wählte Mustafa Kemal zum ersten Präsidenten. Die neue Republik übernahm einige osmanische Traditionen und erhob die Leugnung des Genozids an den Armeniern zur Staatsdoktrin.

Die Nationalversammlung ernannte Mehmed Kemal beispielsweise zum »nationalen Märtyrer«. Die türkisch-sowjetischen Beziehungen – Ende 1922 fusionierten die Sowjetrepubliken zur Sowjetunion – verharrten auf einem Tiefpunkt bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929.

Anmerkungen

1 Richard C. Hall: Bulgaria in the First World War, in: The Historian, Jg. 73 (2011), Nr. 2, S. 300–315, hier S. 304
2 Nur Bilge Criss: Istanbul Under Allied Occupation 1918–1923, Leiden 1999.
3 Dadrian, Vahakn N.: The Turkish Military Tribunal’s Prosecution of the Authors of the Armenian Genocide: Four Major Court-Martial Series, in: Holocaust and Genocide Studies, Jg. 11 (1997), Nr. 1, S. 28–59
4 Sean Kelly: How Far West?: Lord Curzon’s Transcaucasian (Mis-)Adventure and the Defence of British India 1918–23, in: The International History Review, Jg. 35 (2013), Nr. 2, S. 274–293; sowie: John D. Rose: Batum as Domino 1919–1920: The Defence of India in Transcaucasia, in: The International History Review, Jg. 2 (1980), Nr. 2, S. 266–287
5 George H. Bennett: British Foreign Policy during the Curzon Period 1919–24, London 1995, S. 65
6 John Gareth Darwin: The Chanak Crisis and the British Cabinet, in: History, Jg. 65 (1980), Nr. 213, S. 32–48, hier S. 36
7 Camilla Dawletschin-Linder: Diener seines Staates: Celal Bayar (1883–1986) und die Entwicklung der modernen Türkei, Wiesbaden 2003, S. 94
8 Yonca Köksal: Transnational Networks and Kin States: The Turkish Minority in Bulgaria 1878–1940, in: Nationalities Papers: The Journal of Nationalism and Ethnicity, Jg. 38 (2010), Nr. 2, S. 191–211, hier S. 195
9 Mary Neuburger: The Bulgarian Factor in Russia’s Revolutionary Era 1917–23, in: Journal of Contemporary History, Jg. 52 (2017), Nr. 4, S. 874–891, hier S. 884
10 Sylvia Kedourie: Turkey Before and After Ataturk: Internal and External Affairs, Hoboken 2012, S. 230
11 The National Archives (TNA, Kew/Großbritannien): Foreign Office (FO): 371/7944: H. G. M. Rumbold an Foreign Office, Konstantinopel, 17.1.1922
12 TNA: FO: 371/8073: Secret Intelligence Service an Foreign Office: Alleged Plan for »Eastern Entente«, London, 23.3.1922
13 John Fisher: The Defence of Britain’s Eastern Empire After World War One: The Role of the Interdepartmental Committee on Eastern Unrest 1922–1927, in: The Historian, Jg. 16 (1999), Nr. 64, S. 13–17
14 Faiz Ahmed: Afghanistan Rising – Islamic Law and Statecraft Between the Ottoman and British Empires, Cambridge (Massachusetts)/London 2017, S. 145–150
15 Fisher: a. a. O., S. 13
16 John Ferris: »The Internationalism of Islam« – The British Perception of a Muslim Menace 1840–1951, in: Intelligence and National Security, Jg. 24 (2009), Nr. 1, S. 57–77
17 Ferris: British Intelligence and Policy During the Chanak Crisis September/October 1922, S. 147
18 Ferris: a. a. O., S. 145
19 Peter Kincaid Jensen: The Greco-Turkish War 1920–1922, in: International Journal of Middle East Studies, Jg. 10 (1979), Nr. 4, S. 553–565, hier S. 562
20 Ferris: a. a. O., S. 140–142
21 Ders., a. a. O., S. 163/164
22 Richard Pipes (Hg.): The Unknown Lenin – From the Secret ­Archive, New Haven (Connecticut) 1996, S. 121
23 Russisches Staatsarchiv für soziopolitische Geschichte (RGASPI, Moskau, Russland): Fond 17, Opis 3, Dela 293: ZK der AKP (B): Protokoll Nr. 7, Moskau, 26.5.1922
24 Ferris: a. a. O., S. 163/164
25 Zara S. Steiner: The Lights That Failed: European International History 1919–1933, New York (NY) 2005, S. 116
26 Dies., ebd.
27 Dies., a. a. O., S. 119

Erschienen in: junge Welt, 09.09.2022.

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