»Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.« — Václav Havel
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David X. Noack

Kritische Perspektiven auf Geschichte und internationale Politik

Ein Deutsch-Nicaraguanischer Krieg 1876–1878?

Die Eisenstuck-Affäre zwischen innenpolitischen Auseinandersetzungen eines mittelamerikanischen Staates und kaiserlich-deutscher Kanonenbootpolitik in Lateinamerika

Im Gegensatz zur üblichen Kanonenbootpolitik eskalierte die so genannte Eisenstuck-Affäre von 1876 bis 1878 viel weiter und das Deutsche Kaiserreich und Nicaragua standen damals kurz vor einem Krieg – es wäre der erste des gerade entstandenen Deutschen Reiches in Übersee gewesen.

Die Konfrontation der europäischen Großmacht und des relativ isolierten mittelamerikanischen Landes war keine gewöhnliche Episode der so genannten Kanonenbootpolitik, wie sie europäische Großmächte und die USA gegenüber den lateinamerikanischen Staaten Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts praktizierten. Sie ging viel weiter – inklusive deutscher Truppen auf nicaraguanischem Boden. Auf der einen Seite des Konflikts stand damals das Deutsche Kaiserreich, welches die preußischen Eliten 1871 nach ihren Vorstellungen gegründet hatten. Bis Anfang der 1870er Jahre dominierten die Handels- und Schifffahrtsinteressen der beiden norddeutschen Hansestädte Hamburg und Bremen sowie die Exportbedürfnisse der preußischen Industrie die Beziehungen der deutschen Staaten mit Lateinamerika.

Die dann erfolgte Etablierung des Kaiserreichs führte zu einem Wirtschaftaufschwung im Land selbst, der so genannten „Gründerzeit“. Nach Südamerika sprangen in dieser Zeit die Exporte rapide an: Von 1873 bis 1889 verdreifachte sich der Export in diese Weltregion.[1] Den Ausbau des Handels mit Lateinamerika unterfütterten die Deutschen mit der Errichtung der Westindischen Station, einer Gruppe von Kriegsschiffen, die sich in der Karibik aufhalten sollten. Diese Station errichtete bereits der Norddeutsche Bund – ein Staatenbund, in dem sich unter anderem Bremen, Hamburg und Preußen zusammenschlossen – bereits im Jahr 1868.[2]Das Kaiserreich übernahm sie. Die deutschen Schiffe liefen dabei meist St. Thomas auf den Dänischen Jungferninseln an – eine Inselgruppe, von welcher deutsche Strategen in den 1870er Jahren davon ausgingen, dass Deutschland sie zeitnah kaufen würde.[3]

Auf der anderen Seite des Konflikts stand das kleine zentralamerikanische Land Nicaragua. Dieses hatte seit 1852 eine neue Hauptstadt: Managua, gelegen zwischen León in der Nähe der Pazifikküste und Granada am Nicaraguasee. Letztere beide Städte waren sowohl die beiden wirtschaftlichen Zentren des Landes, aber auch die Hochburgen der Liberalen und Konservativen, die seit Jahrzehnten um die Dominanz im Land stritten. 1854 schaukelten sich in Nicaragua die Konflikte zwischen der konservativen Partido Legitimista und der liberalen Partido Democrático zu einem Bürgerkrieg auf. Da die Liberalen zu verlieren drohten, wandten sie sich an den US-amerikanischen Abenteurer und Söldner William Walker. Dieser segelte mit etwas mehr als 50 Mann aus San Francisco nach Nicaragua und baute eine Armee auf. Nach dem entscheidenden Sieg in der Schlacht von La Virgen im September 1855 setzte Walker den vermögenden liberalen Anwalt Patricio Rivas als Übergangspräsident ein, behielt aber de facto selbst die Macht im Land. Nach einem halben Jahr setzte Walker dann Rivas ab und erklärte sich selbst zum Präsidenten. Der US-Amerikaner führte Englisch als Staatssprache ein, legalisierte die Sklaverei und ließ eine neue Fahne hissen. Der „Filibuster“ drohte, nach Nicaragua auch Costa Rica einzunehmen.

Die öffentlichen Drohgebärden sorgten dafür, dass eine Reihe mittelamerikanischer Staaten sich zusammenschloss, um der Gefahr durch Walker eine gemeinsame Streitmacht entgegenzustellen: Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras und der Para-Staat der Moskitoküste.[4] Der Koalition gelang es – gemeinsam mit der US-Marine – William Walker wieder aus dem Amt entfernen. Kurz vor ihrer Niederlage setzten Anhänger Walkers noch die Stadt Granada in Brand – was die Episode für die Konservativen noch schmerzlicher werden ließ. In den folgenden Jahrzehnten blieben die Liberalen wegen ihrer Zusammenarbeit mit dem „Filibuster“ Walker innenpolitisch diskreditiert.[5]

Die Konservativen regierten die folgenden Jahrzehnte ohne Unterbrechungen. Im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs des Deutschen Kaiserreichs in seinem ersten Jahrzehnt entsandte Berlin das erste Mal 1876 einen Berufsdiplomaten nach Zentralamerika: Der in Königsberg geborene Werner von Bergen residierte ab diesem Jahr in Ciudad de Guatemala.[6] In Nicaragua zeigte das Kaiserreich nur durch Honorarkonsule Präsenz: Die aus einer Chemnitzer Fabrikantenfamilie stammenden Gebrüder Eisenstuck lebten in Leon und hatten sich dort in eine Sägefabrik eingekauft. Die Amtsgeschäfte als Honorarkonsul übernahm immer der Bruder, der gerade Zeit hatte. Nachdem die Stieftochter von Paul Eisenstuck, Franziska Bahlke, sich von ihrem gewalttätigen Ehemann getrennt hatte und 1876 wieder in das Elternhaus der Eisenstucks zurückkehrte, nahm eine persönliche Affäre ihren Lauf, die später zu einer Staatsaffäre eskalierte. Bei einem nächtlichen Spaziergang im Oktober 1876 schoss ein Unbekannter auf Bahlke. Ida und Paul Eisenstuck – bei dem Überfall anwesend – identifizierten den Angreifer. Kriegsminister Lopez wies den Chef der für Leon zuständigen Zweiten Armee an, Ermittlungen einzuleiten.

Aufgrund von Aufständen der Liberalen galt in León der Ausnahmezustand und das Militär zeichnete sich für Teile der Gerichtsbarkeit zuständig. Doch die Ermittlungen kamen nicht in die Gänge und Eisenstuck wandte sich an Generalkonsul von Bergen in Guatemala sowie das Auswärtige Amt in Berlin. Von Bergen reiste nach León und meldete nach Berlin, dass die Anwesenheit eines deutschen Kriegsschiffes wünschenswert wäre.[7] Einen Monat später überfiel eine Gruppe Polizeisoldaten unter dem Befehl von Francisco Leal, weiterhin der Ehemann von Franziska Bahlke, die Familie Eisenstuck. Bahlke und ihre Tochter wurden entführt und die Polizeisoldaten verprügelten und verhafteten Paul Eisenstuck. Dessen Bruder Moritz wandte sich in seiner Funktion als Honorarkonsul an den zufällig gerade in Leon weilenden nicaraguanischen Staatspräsidenten und bat um eine rasche Aufklärung.[8] Paul Eisenstuck kam schnell wieder auf freien Fuß, doch die Ermittlungen zogen sich erneut hin und es geschah erst einmal nichts auf dem Gebiet der Juristerei. Die Regierung in Berlin wandte sich an Generalkonsul von Bergen in Guatemala, der gegenüber der Regierung Nicaraguas vier Forderungen durchsetzen sollte: Die am Überfall beteiligten Personen sollten verurteilt, die die Anklage verschleppenden Beamten bestraft, dem Konsul Eisenstuck sollten 30.000 US-Dollar gezahlt und vor der deutschen Flagge ein Salut durch nicaraguanische Soldaten gemacht werden.

Die Auszahlung des Geldes sollte am Tag des militärischen Saluts geschehen. Das Auswärtige Amt wandte sich darüber hinaus über die Botschafter in Washington und London an die Regierungen Großbritanniens und der USA und diese signalisierten, dass die deutschen Ansprüche nachvollziehbar seien.[9] Unter den Großmächten herrschte Einigkeit über das Agieren gegenüber Nicaragua. Im April 1877 stellte der Höchste Gerichtshof in Leon die Verfahren ein und erklärte, dass es sich bei der ganzen Affäre um eine Privatangelegenheit handelte. Ein guatemaltekischer Anwalt erzählte daraufhin Generalkonsul von Bergen und dem US-Gesandten in Ciudad de Guatemala, George McWillie Williamson, dass die gesamte Angelegenheit eine „unter der Hand arrangierte Komödie der Regierung und der Gerichte“ Nicaraguas sei.[10] Von Bergen und Williamson reisten daraufhin nach Nicaragua, um den Außenminister des Landes, Anselmo Rivas, zu treffen. Als sie in Managua ankamen, wurde ihnen jedoch mitgeteilt, dass sie noch zwei Tage warten müssten – ein weiterer diplomatischer Affront gegenüber den Großmächtevertretern. Von Bergen und Williamson reisten daraufhin unverrichteter Dinge ab.[11] Der nicaraguanische Vertreter in London versuchte derweil, Parallelen zwischen dem Eingreifen Walkers und dem Agieren der Deutschen zu ziehen.[12]

Die Angelegenheiten schienen jedoch zu unterschiedlich und die Regierung in London blieb bei ihrer pro-deutschen Haltung in der Frage. Nach weiteren Konsultationen zwischen Vertretern Deutschlands, Großbritanniens und der USA entschied sich die Regierung in Berlin, militärisch in Nicaragua einzugreifen. Aus Europa und von der Marinestation in Ostasien entsandte die deutsche Reichsregierung drei Kriegsschiffe nach Panama, wo diese sich zu einer Flottille zusammenschlossen. Vor San Juan del Norte (Greytown), der früheren Hauptstadt der Moskitoküste, lag außerdem das deutsche Schulschiff SMS Medusa. Insgesamt 1.100 Soldaten und Kadetten der deutschen Marine befanden sich damit vor den Küsten Nicaraguas.[13]

Im März 1878 begann dann die „Operation Nicaragua“: Ein 150 Mann großes Landungskommando der SMS Medusa besetzte San Juan del Norte und hob um die Stadt herum Stellungen aus. Auf der anderen Seite des Landes traf derweil die deutsche Flottille mit den drei Kriegsschiffen Ariadne, Elisabeth und Leipzig an dem kleinen Pazifikhafen Corinto ein. Deutsche Vorauskommandos erkundeten zu Wasser die Buchten um Corinto und an Land das örtliche Zollhaus sowie die Wege in Richtung der Hauptstadt Managua. Für die angedachte Expedition der deutschen Truppen zu Land mietete der Flottillenkommandeur Wilhelm von Wickede bereits Ochsenkarren an, da die Strecke für die Deutschen nicht nur durch Märsche zu meistern schien.[14] Kommandosoldaten der Schiffe Ariadne, Elisabeth und Leipzig besetzten außerdem den Hafen von Corinto.[15]

In Granada trafen sich unterdessen Mitglieder der Regierung mit einigen führenden konservativen aber auch ein paar liberalen Politikern. Die Versammlung beschloss, den Deutschen Widerstand entgegenzusetzen und ließ Rekrutierungskommandos ausschwärmen, die bereits in Granada mit der Rekrutierung von Soldaten für die nicaraguanische Armee begann. Auf die Stadt Leon setzten die Konservativen dabei nicht, da man sich dort „in ihrem Hass auf die Regierung fast auf die Ankunft der Flotte freuen“ würde.[16] Von Wickede wiederum vermutete, dass die Konservativen darauf setzten, dass die Deutschen Leon zerstören würden.[17] Das wäre dann die Rache der Konservativen für die Zerstörung Granadas unter William Walker gewesen. Die US-amerikanische Regierung sah das deutsche Vorgehen als Bruch der Monroe-Doktrin und damit dem Anspruch der Vereinigten Staaten, die alleinige Großmacht in der Region zu sein, an. Sie erhöhte den Druck auf die Regierung in Managua und diese stimmte zu, den deutschen Ansprüchen stattzugeben.

Die Deutschen weiteten nicht ihre Präsenz in Corinto aus, sondern Vertreter der nicaraguanischen Armee verhandelten mit den Deutschen über den geforderten Flaggensalut. Am 31. März 1878 übergaben die Nicaraguaner den Deutschen die 30.000 US-Dollar auf der SMS Elisabeth und vor Corinto führten nicaraguanische Soldaten den Flaggensalut durch.[18] Damit endete die Eisenstuck-Affäre, die manche Beteiligte an den Auseinandersetzungen wie Karl Paschen, der Kommandeur der SMS Leipzig, im Nachhinein als „Krieg“ bezeichneten.[19] Verlustzahlen für diesen eigenartigen Konflikt sind nicht bekannt, dürften aber minimal gewesen sein. Die Deutschen handelten im Verlauf der Krise klassisch aggressiv – wie es für die Großmächte im Zuge der Kanonenbootpolitik normal war.

Als besonders eigenartig darf aber bis heute das Vorgehen der nicaraguanischen Regierung bezeichnet werden. Wahrscheinlich kalkulierten die Konservativen auf eine Zerstörung Leons, der Hochburg der Liberalen. Nicaragua befand sich während des Konflikts mit Deutschland tief in einer Umbruchphase. Die konservative Regierung unter Pedro Joaquín Chamorro Alfaro (im Amt 1875–1879) erließ 1877 ein Landwirtschaftsgesetz, welches kommunalen Landbesitz verbot und Privatpersonen erlaubte, „ungenutztes Land“ zu erwerben.[20] Ein Gesetz über Subventionen legte außerdem die staatlichen Zuschüsse für den Kaffeeanbau fest.[21] Die konservativen Reformen, von denen das Landwirtschaftsgesetz der Höhepunkt war, zielten auf die Schaffung von sehr guten Bedingungen für den Kaffeeanbau ab.[22]

Eine Öffnung Nicaraguas für den Welthandel wollten die konservativen Eliten des Landes vielleicht nur mit der Ausschaltung der Liberalen bewerkstelligen. Die Deutschen waren ihnen dafür wohl nur Mittel zum Zweck.

Einzelnachweise

  1. Walther L. Bernecker/Thomas Fischer: Deutschland und Lateinamerika im Zeitalter des Imperialismus, 1871–1914, in: Ibero-amerikanisches Archiv, Jg. 21 (1995), Nr. 3/4, S. 273–302 (hier: S. 276–277).
  2. Gerard Wiechmann: Die preußisch-deutsche Marine in Lateinamerika 1866–1914: Eine Studie deutscher Kanonenbootpolitik, Bremen 2002, S. 20.
  3. Gerard Wiechmann: Die preußisch-deutsche Marine in Lateinamerika 1866–1914: Eine Studie deutscher Kanonenbootpolitik, Dissertation an der Universität Oldenburg 2000, S. 116. Letztendlich verkaufte die Regierung in Dänemark die Inselgruppe an die USA im Jahr 1916, welche die Kolonie Anfang 1917 übernahmen.
  4. Seit 1638 existierte an der Karibikküste der heutigen Staaten Honduras und Nicaragua ein britisches Protektorat, welches meist Moskitoküste oder Moskitokönigreich genannt wurde. 1854 – unabhängig vom Bürgerkrieg in Nicaragua – zerstörte die US-Marine die Hauptstadt der Moskitoküste, Greytown. 1860 teilten die Briten das Gebiet auf und übergaben es an Honduras und an Nicaragua.
  5. Thomas W. Walker/Christine J. Wade: Nicaragua – Emerging From the Shadow of the Eagle, Boulder (CO) 2017, S. 23.
  6. Wiechmann: Die preußisch-deutsche Marine in Lateinamerika 1866–1914, S. 101.
  7. Ebenda.
  8. Ebenda, S. 103.
  9. Ebenda, S. 103/104.
  10. Ebenda, S. 105.
  11. Ebenda.
  12. Ebenda, S. 108.
  13. Ebenda, S. 109.
  14. Ebenda, S. 112.
  15. Gerard Wiechmann: Ein deutscher Krieg in Nicaragua? Die kaiserliche Marine in der Eisenstuck-Affäre 1876–1878, in: Hartmut Klüver (Hg.): Auslandseinsätze deutscher Kriegsschiffe im Frieden, Bochum 2003, S. 31–60 (hier: S. 31).
  16. Wiechmann: Die preußisch-deutsche Marine in Lateinamerika 1866–1914, S. 115.
  17. Ebenda, S. 114.
  18. Ebenda, S. 113.
  19. Ebenda, S. 111.
  20. Walker/Wade: Nicaragua – Emerging From the Shadow of the Eagle, S. 24.
  21. Arturo J. Cruz, Jr.: Nicaragua’s Conservative Republic, 1858–93, New York (NY) 2002, S. 184Fn5.
  22. Walker/Wade: Nicaragua – Emerging From the Shadow of the Eagle, S. 24.

Erschienen auf: amerika21.de, 08.04.2022.

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