»Wer die Freiheit aufgibt um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.« — Benjamin Franklin
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David X. Noack

Kritische Perspektiven auf Geschichte und internationale Politik

Der letzte große Krieg in Südamerika

Der Krieg um die Chaco-Region zwischen Bolivien und Paraguay 1932-1935

In der ersten Hälfte der 1930er Jahre führten die beiden südamerikanischen Staaten Paraguay und Bolivien einen Krieg, der als der tödlichste zwischenstaatliche Krieg des Kontinents im gesamten 20. Jahrhundert in die Geschichtsbücher einging. Mit relativen Verlusten, die denen der mitteleuropäischen Staaten im Ersten Weltkrieg entsprachen, diente der Konflikt auch als Probierfeld für Technologien und Techniken des Zweiten Weltkrieges in Europa. Verschiedene Staaten Europas und Süd- sowie Nordamerikas hatten ihre Finger in diesem blutigen Konflikt. Die Grenzen und das Verhältnis zwischen den beiden südamerikanischen Binnenstaaten veränderten sich nachhaltig – mit Folgen bis in die Gegenwart.

Im Herbst 2012 sorgte die paraguayische Tageszeitung ABC Color für großes Aufsehen in dem südamerikanischen Land, als ein Autor in einem Leitartikel andeutete, dass die Regierung des benachbarten Boliviens anstrebe, die Gebietsverluste des Chaco-Krieges von 1932 bis 1935 rückgängig machen zu wollen. Boliviens Präsident Evo Morales habe angeblich seine Streitkräfte indoktriniert, die Grenzen des Tahuantinsuyo – des Inkareiches aus der Zeit vor der spanischen Eroberung – wiederherzustellen. Politische Beobachter werteten den Artikel als nachträgliche Legitimierung des Verfassungsputsches gegen Fernando Lugo, der laut dem vielbeachteten Artikel der Zeitung ABC Color eine „Kampagne gegen die Verbesserung der militärischen Kapazitäten [Paraguays]“ betrieben habe.1 Das rechtsgerichtete Blatt unterstützte jahrelang die Diktatur des paraguayischen Diktators Alfredo Stroessner und stand zuletzt dem Regime des De-Facto-Präsidenten Federico Franco nahe.

Nach einer kurzen Aufregung in der Presse beider Länder schien die Sache schnell erledigt. Die Vorwürfe waren ganz eindeutig haltlos. Doch was genau geschah in der Chaco-Region in den 1930er Jahren, dass rechtsgerichtete Kreise im Paraguay der Gegenwart auf die Idee kommen könnten, dass die bolivianische Staatsführung an einer militärischen Racheunternehmung interessiert sein könnte?

Nach dem Salpeterkrieg von 1879 bis 1884 gegen Chile hatte Bolivien seinen einzigen Zugang zu einem Ozean verloren. Das Andenland besaß fortan als einziges südamerikanisches Land keinen direkten oder indirekten Zugang zum Meer. Das bolivianische Nachbarland Paraguay hatte zwar damals wie heute auch keine Meeresküste, der für die Republik namensgebende Fluss Paraguay mündet jedoch in den Paraná, der wiederum Teil des Río de la Plata ist. Über diese Anbindung können paraguayische Schiffe zum Atlantik fahren – solange Argentinien und Uruguay nichts dagegen unternehmen.

Im Jahr 1921 fing die paraguayische Staatsführung an, mit mennonitischen Siedlern über eine Besiedlung des Chaco zu verhandeln. Dieses knapp 650.000 Quadratkilometer große Gebiet – zum Vergleich: Deutschland hat heute eine Fläche von 357.000 Quadratkilometern – zeichnete sich vor allem durch eine dünne Besiedlung aus. Den größte Bevölkerungsanteil stellten die Ureinwohner der Region. Als Gegenreaktion auf die paraguayische Besiedlungstätigkeit versuchte die Regierung Boliviens, die Kontrolle über den Gran Chaco zu sichern. In den 1920er Jahren, vor allem 1927 und 1928, kam es daraufhin wiederholt zu militärischen Zwischenfällen zwischen der bolivianischen und der paraguayischen Armee in dieser Region.

Doch die Ursachen der folgenden Konfrontation lagen nicht nur in der Geographie: Mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929/1930 fiel der Preis von Zinn, einem der größten Exportgüter Boliviens, ins Bodenlose. Eng verflochten mit der bolivianischen Politik bangte eine nationale Zinn-Oligarchie, die auch enge Beziehungen mit der britischen Hochfinanz hatte2, im Andenland um ihre Pfründe.3 Um dem Preisverfall gegenzusteuern, entstand beispielsweise im Verlauf des Jahres 1931 ein internationales Zinnkartell.4 Doch Zinn stellte nicht den einzigen begehrten Rohstoff der Region dar: Bis heute ist in Bolivien die Theorie populär, dass hinter dem Konflikt die beiden Ölkonzerne Standard Oil (in Bolivien) und Royal Dutch Shell (in Paraguay) gestanden hätten und die jeweiligen Regierungen zu einem Waffengang animierten. In der Geschichtswissenschaft wird diese Theorie mittlerweile als widerlegt angesehen.5

Nach den verschiedenen militärischen Zwischenfällen im Chaco-Gebiet forcierten die Regierungen beider Staaten den Ankauf von Rüstungsgütern in Nordamerika und Europa. Dabei setzten die Regierungen in La Paz und Asunción auf unterschiedliche Strategien. Die bolivianische Regierung verhandelte letztendlich erfolglos mit den tschechoslowakischen Škoda-Werken und schloss schließlich 1926 einen großen Rüstungsdeal mit dem britischen Konzern Vickers-Armstrong ab.6 Paraguay hingegen setzte nicht auf einen Konzern, sondern auf eine weitgehende Diversifizierung und entsandte Delegationen in die USA und verschiedenste europäische Staaten, um Waffen zu kaufen. Die angekauften paraguayischen Rüstungsmaterialien stammten letztendlich aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Niederlanden, Spanien und den USA.7

Mit bolivianischen Angriffen auf ein paraguyaisches Fort am See Pitiantutá begannen im Sommer 1932 die offiziellen Kampfhandlungen zwischen beiden Staaten. Das britische War Office rechnete nach Kriegsbeginn mit einem deutlichen Sieg der bolivianischen Armee, sollte nicht Argentinien in den Krieg eingreifen.8 Offiziell nahmen die argentinischen Streitkräfte auch nicht an dem Krieg teil. Die zahlenmäßig überlegene bolivianische Armee konnte zunächst den umstrittenen Pitiantutá-See einnehmen, im Zuge der ersten paraguayischen Gegenoffensive konnte aber die Armee dieses Landes die wichtige Festung von Boquerón nach einem klaren Sieg einnehmen. Die bolivianische Gegenoffensive verzeichnete lediglich einen kleineren Erfolg im Kampf um Campo Jordán, die größeren Feldschlachten um Nanawa konnten die paraguayischen Truppen für sich entscheiden.

Doch auf dem Schlachtfeld standen sich nicht nur Südamerikaner gegenüber – der Konflikt zeichnete sich durch ein hohes Maß an Internationalisierung aus. Auf beiden Seiten kämpften diverse Militärs aus den verschiedensten Staaten. Da Bolivien große Mengen an tschechoslowakischen Waffen gekauft hatte, riet die Militärführung dieses mitteleuropäischen Landes, eine Militärdelegation nach Bolivien zu schicken. 1934/35 hielt sich dann eine Delegation angeblich ziviler Tschechoslowaken in Bolivien auf.9 Die tschechoslowakische Militärmission riet beispielsweise den bolivianischen Militärs zu einer anderen Taktik im Feld, wurde jedoch konsequent ignoriert.10 Auch chilenische Freiwillige sowie eine größere Anzahl deutscher Söldner dienten auf bolivianischer Seite. Von größerer Relevanz dürften hingegen die ehemaligen zarisch-russischen Offiziere auf paraguyanischer Seite gewesen sein. Die circa 80 russischen Neu-Paraguyaner dienten hauptsächlich ihrer neuen Heimat im Staatsdienst und dabei vor allem bei der Kartographierung des Landes. Von 28 paraguyanischen Regimentern führten russische Offiziere sieben dieser Einheiten in die Schlacht.11

Eine kriegsentscheidende Rolle kam Argentinien zu, da das Land Paraguay militärisch unterstützte. In Argentinien dominierte ab circa 1930 in Politik und Militär die Überzeugung, dass die informell-imperiale Unterordnung unter das britische Empire durch neue politische Alternativen ersetzt werden müsste.12 Noch in den 1920er Jahren hatten die britisch-argentinischen Beziehungen einen Höhepunkt erlebt, als der Prinz von Wales – der spätere König Edward VIII. – Buenos Aires besuchte und die langjährige britisch-argentinische Allianz lobte.13 Im britischen Freihandelsimperium hatte Argentinien die Rolle des Zulieferers von Fleisch und Getreiden.14 Doch in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg zeichnete sich ein wirtschaftlicher Abstieg des Vereinigten Königreiches ab. Großbritannien konnte die Waren nicht mehr aufnehmen, die Argentinien ausliefern wollte und hatte auch nicht mehr die Kapitalmacht, um den argentinischen Markt zu dominieren.

Ein massiv erstarktes, mit Großbritannien verbündetes und außerdem noch auf einen einzigen britischen Waffenlieferanten setzendes Bolivien dürfte dementsprechend nicht im nationalen Interesse Argentiniens gelegen haben. Die argentinische Seite blockierte Waffenlieferungen an Bolivien, was für das Andenland zum Verhängnis wurde, da die besten Transportrouten durch das Land am Río de la Plata führten. Auch hatte die bolivianische Armee ihre Nahrungsmittelversorgung auf dem Nachschub aus Argentinien aufgebaut. Zusätzlich zu einer argentinischen Militärmission „lieh“ die Luftwaffe des Landes Piloten an die paraguayische Luftwaffe.15

Zu einem Problem für die bolivianische Staatsführung entwickelte sich das eigene Militär. Während eines Besuches des Präsidenten Daniel Salamanca im Armeeoberkommando im November 1934 putschten hochrangige Militärs gegen ihn. Dem über 70 Jahre alten Präsidenten von der „Genuin Republikanischen Partei“ (Partido Republicano Genuino, PRG) sagten viele nach, nicht nur greis und zu krank zu sein, sondern auch an vielen Unzulänglichkeiten im Chaco-Krieg schuld zu sein. Um eine zivile Fassade zu bewahren, ernannten die Militärs den Vizepräsidenten José Luis Tejada von der „Liberalen Partei“ zum Präsidenten. Die schlechte Koordinierung zwischen der Staats- und Militärführung wurde den Bolivianern zum Verhängnis.

Bereits im Laufe des Jahres 1934 kollabierten die meisten bolivianischen Frontabschnitte und ein klarer paraguayischer Sieg zeichnete sich ab. Zwei weitere Offensiven der Armee Paraguays hatten Boliviens Truppen weitere Niederlagen eingebracht. Sogar die argentinische Armee nahm im letzten Kriegsjahr noch einen Außenposten vom geschwächten Bolivien ein.16 Im Juni 1935 einigten sich beide Seiten auf einen Waffenstillstand, 1938 folgte ein Friedensvertrag, der in Paraguay durch eine Volksabstimmung angenommen wurde. Die endgültige Grenzziehung sicherten beide Konfliktparteien jedoch erst in einem Vertrag im Jahre 2008 ab.

1. Benjamin Beutler: Asunción streut Kriegsgerüchte, junge Welt, 13.09.2012. http://www.jungewelt.de/2012/09-13/036.php
2. John Hillman: Bolivia and the International Tin Cartel, 1931-1941, in: Journal of Latin American Studies, Jg. 20 (1988), Nr. 1, S. 86 (83-110).
3. Benjamin Kohl; Linda C. Farthing: Impasse in Bolivia: Neoliberal Hegemony and Popular Resistance, London 2006, S. 44.
4. John Hillman: Bolivia and the International Tin Cartel, 1931-1941, in: Journal of Latin American Studies, Jg. 20 (1988), Nr. 1, S. 83 (83-110).
5. Benjamin Kohl; Linda C. Farthing: Impasse in Bolivia: Neoliberal Hegemony and Popular Resistance, London 2006, S. 44.
6. Matthew Hughes: Logistics and the Chaco War: Bolivia versus Paraguay, 1932-1935, in: The Journal of Military History, Jg. 69 (2005), Nr. 2, S. 418 (411-437).
7. Ebenda, S. 431-432.
8. Ebenda, S. 418.
9. Eva Manethová: Misión militar checa en la Guerra del Chaco, Radio Prag, 10.02.2001. www.radio.cz/es/rubrica/legados/mision-militar-checa-en-la-guerra-del-ch…10. Bruce W. Farcau: The Chaco War: Bolivia and Paraguay, 1932-1935, Westport (CT) 1996, S. 197.
11. Paul Robinson: Forgotten victors: White Russian officers in Paraguay during the Chaco War, 1932–35, in: The Journal of Slavic Military Studies, Jg. 12 (1999), Nr. 3, S. 181 (S. 178-185).
12. Joseph S. Tulchin: Decolonizing an Informal Empire: Argentina, Great Britain, and the United States, 1930-1943, in: International Interactions, Jg. 1 (1974), S. 125 (123-140).
13. Collum A. MacDonald: End of Empire: The Decline of the Anglo-Argentine Connection 1918-1951, in: Alistair Hennessy; John King (Hgg.): The Land that England lost, London 1992, S. 79 (S. 79-92).
14. Ebenda, S. 80.
15. Bruce W. Farcau: The Chaco War: Bolivia and Paraguay, 1932-1935, Westport 1996, S. 111.
16. Madaline W. Nichols: The Epic of the Chaco: Marshal Estigarribia’s Memoirs of the Chaco War, 1932-1935 (Review), in: The Southwestern Historical Quarterly, Jg. 54 (1951), Nr. 2, S. 250 (S. 249-252). texashistory.unt.edu/ark:/67531/metapth101133/m1/325/

amerika21, 02.03.2014

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